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Der Große kam mit dem Mann, mit dem er am Flügel gesprochen hatte, auf Iver und Fredrik zu.

»Der will mit dir reden, nicht mit mir«, flüsterte Fredrik und entfernte sich. Allem Anschein nach hatte er an der Bar etwas Russisches entdeckt.

Iver schluckte. Wie lange machte er jetzt schon mit diesem Mann Geschäfte? Sie saßen im selben Boot, hatten gute Zeiten und die wenigen schlechten geteilt, als zum Beispiel die Folgen der weltweiten Finanzkrise auch an die norwegische Küste geschwappt waren. Trotzdem war er noch immer angespannt, fast ängstlich, wenn der Große sich näherte. Jemand hatte ihm erzählt, er schaffte sein anderthalbfaches Gewicht beim Bank­drücken. Und das nicht nur einmal, sondern zehnmal. Seine physische Kraft war beeindruckend, aber das war bei weitem nicht alles, denn dieser Mann bekam einfach alles mit, was man sagte, jedes Wort, ja, jede noch so kleine Betonung. Sogar oder gerade das, was man nicht auszusprechen wagte. Ganz zu schweigen von dem, was man durch Körpersprache, Gesichtsfarbe und Pupillenbewegungen verriet.

»Und, Iver?« Die tieffrequente, sonore Stimme. »Wie geht’s? Agnete. Das ist schwer, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Iver und hielt nach einer Bedienung Ausschau.

»Ich wollte dir jemanden vorstellen, mit dem du ein paar Dinge gemeinsam hast. Ihr seid beide vor kurzem Witwer geworden …«

Der Mann mit der Augenklappe reichte ihm die Hand.

»… und das durch denselben Mörder«, sagte der Große.

»Yngve Morsand«, sagte der Mann und drücke Ivers Hand. »Mein Beileid.«

»Gleichfalls«, sagte Iver Iversen. Daher kannte er ihn also. Das war der Reeder, der Witwer der Frau, der der obere Teil des Schädels abgetrennt worden war. Er war eine Zeitlang der Hauptverdächtige der Polizei gewesen, bis sie DNA am Tatort gefunden hatte. DNA von Sonny Lofthus.

»Yngve wohnt am Stadtrand von Drammen«, sagte der Große. »Und heute Abend haben wir sein Haus gemietet.«

»Ach ja?«

»Wir haben dort eine Falle aufgebaut. Wir werden Agnetes Mörder schon kriegen, Iver.«

»Der Zwilling meint, die Chancen stehen gut, dass Sonny Loft­hus es heute Abend auf mich abgesehen hat«, sagte Yngve Morsand lachend und sah sich nach irgendetwas um. »Ich habe dagegen gewettet. Können Sie Ihre Bedienungen nicht bitten, etwas Stärkeres zu servieren als diese Martinis, Zwilling?«

»Es ist der nächste logische Zug von Sonny Lofthus«, sagte der Große. »Glücklicherweise ist er so systematisch und berechenbar, dass ich diese Wette wohl gewinnen werde.« Der große Mann grinste breit. Die Zähne blitzten weiß unter dem Schnurrbart, und seine Augen zogen sich wie zwei Striche durch das fleischige Gesicht. Er legte dem Reeder die gigantische Hand auf den Rücken: »Und es wäre mir lieber, Sie würden meinen Spitznamen nicht verwenden, Yngve.«

Der Reeder sah ihn grinsend an: »Sie meinen Zwill… Ah.« Sein Mund öffnete sich, und sein Gesicht erstarrte in einer ungläubigen Grimasse. Iver sah, wie die Finger den Nacken des Reeders losließen und der Mann sich hustend vorbeugte.

»Verstanden, ja?« Der Große machte mit der Hand ein Zeichen in Richtung Bar und rief: »Drinks!«

Martha steckte den Löffel ziellos in die Moltebeercreme. Die Worte, die aus allen Richtungen auf sie einprasselten, überhörte sie. Ob dieser Mann sie schon einmal belästigt habe? Ob er gefährlich sei? Ob er wirklich im Hospiz wohne und womöglich auf die Idee kommen könnte, Anders wegen seines resoluten Eingreifens anzuzeigen? Diese Drogenabhängigen waren ja schrecklich unberechenbar. Aber vermutlich hatte der ja unter Drogen gestanden und erinnerte sich an nichts. Ein Onkel meinte, er habe dem Mann aus dem Fernsehen ähnlich gesehen, der wegen Mordes gesucht wurde. Wie war noch mal sein Name? Ein Ausländer? Aber Martha, warum willst du denn nicht antworten? Ihr müsst das doch verstehen, sie unterliegt der Schweigepflicht.

»Ich esse Moltebeercreme«, sagte Martha. »Die ist gut, ihr solltet sie auch probieren. Ich hole noch Nachschlag.«

In der Küche stellte Anders sich hinter sie.

»Ich habe gehört, was er gesagt hat«, flüsterte er. »Ich liebe dich? Das war doch der Typ, den wir im Ila auf dem Flur getroffen haben. Mit dem du auf so merkwürdige Weise kommuniziert hast. Was läuft da eigentlich zwischen euch?«

»Anders, bitte …«

»Habt ihr gefickt?«

»Hör auf!«

»Er hat jedenfalls ein schlechtes Gewissen. Sonst hätte er ja wohl seine Pistole gezogen. Was wollte der hier? Mich erschießen? Ich rufe die Polizei …«

»Und was willst du der sagen? Dass du einen Mann angegriffen und ihm gegen den Kopf getreten hast, ohne dass er dich bedroht hat?«

»Und woher wollen die wissen, dass er mich nicht bedroht hat? Willst du ihnen das sagen?«

»Oder der Taxifahrer.«

»Du?« Er packte ihren Arm und lachte. »Doch, doch, du willst ihnen das sagen. Du würdest seine Partei ergreifen und deinen eigenen Mann verraten. Du blöde Hure …«

Sie riss sich los. Ein Dessertteller fiel zu Boden und zerbrach. Im Esszimmer war es vollkommen still geworden.

Sie lief auf den Flur, nahm ihr Cape und ging zur Tür. Hielt inne. Stand eine Sekunde still da. Dann drehte sie sich um und ging zurück ins Esszimmer. Sie ergriff einen Löffel, der noch weiß von Moltebeercreme war, und schlug gegen ein verschmier­tes Glas. Blickte auf und erkannte, dass sie längst die Aufmerksamkeit aller hatte.

»Liebe Freunde und Verwandte«, sagte sie. »Ich will nur sagen, dass Anders recht hatte. Wir schaffen es wirklich nicht, bis zum Sommer zu warten …«

Simon fluchte. Er stand mit seinem Auto mitten in Kvadraturen und starrte auf den Plan, den Bereich, in dem sich laut Telenor das Telefon befand, von dem aus Sonny Lofthus ihm die SMS geschickt hatte. Simon wusste inzwischen, dass es sich um ein Prepaid-Handy handelte, das auf Helge Sørensen registriert war. Logisch, Sonny hatte den Ausweis des krankgemeldeten Gefängniswärters genutzt.

Aber wo war er?

Der Bereich umfasste nur wenige Quadrate auf der Karte, diese bildeten jedoch eine der bevölkerungsreichsten Gegenden von ganz Oslo ab. Mit Geschäften, Büros, Hotels und Wohnungen. Simon zuckte zusammen, als jemand gegen das Seitenfenster klopfte. Ein stark geschminktes, untersetztes Mädchen, das Hot Pants trug und die Brüste in eine Art Korsett gezwängt hatte. Er schüttelte den Kopf, und sie schnitt ihm eine fürchterliche Grimasse. Simon hatte vergessen, dass er sich mitten im Strichviertel befand, wo ein einzelner Mann in einem geparkten Auto natürlich als potentieller Kunde angesehen werden musste. Sich einen im Auto blasen lassen oder eine Zehn-Minuten-Nummer im Bismarck oder an der Mauer der Akershus-Festung. Er hatte so etwas auch schon hinter sich, war aber alles andere als stolz darauf. Damals war er bereit gewesen, für ein bisschen menschliche Wärme und eine Stimme, die »Ich liebe dich« hauchte, zu zahlen. Eine »Zusatzleistung«, die mit zweihundert Kronen extra berechnet wurde.

Er rief die Nummer noch einmal an. Musterte die Leute, die auf dem Bürgersteig auf und ab gingen, und hoffte darauf, dass jemand zum Handy griff und sich so entlarvte. Seufzend beendete er die Verbindung und sah auf die Uhr. Das Telefon befand sich auf jeden Fall noch am selben Ort, was ja nur bedeuten konnte, dass Sonny sich ruhig verhielt und an diesem Abend keine weitere Teufelei plante. Warum sagte Simon sein Gefühl nur etwas anderes?

Bo saß in dem fremden Zimmer und starrte durch das große Panoramafenster nach draußen. Hinter ihm stand eine helle Lampe, deren Lichtstrahl zum Fenster gerichtet war, so dass man von draußen nur Bos Silhouette erkennen konnte und keine Details. Wobei natürlich zu hoffen war, dass Sonny Lofthus Yng­ve Morsand nicht kannte. Bo dachte, dass auch Sylvester so dagesessen hatte. Der gute, dumme, loyale, lärmende Sylvester. Auch er war von diesem Teufel ermordet worden. Wie, würden sie wohl nie erfahren. Denn es würde kein Verhör geben, keine Folter, bei der Bo die Rache hinauszögern und genießen konnte wie ein Glas Retsina. Viele mochten den harzigen Geschmack nicht, aber für Bo war das ein Geschmack der Kindheit, von ­Telendos, Freunden, einem sich auf den Wellen wiegenden Boot, in dem er lag und den immer blauen griechischen Himmel genoss, während er das Duett der plätschernden Wellen und des singenden Windes hörte. In seinem rechten Ohr klickte es.