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Nach seiner Freilassung war er vollkommen allein gewesen. Die Familie hatte ihn verstoßen, die Freunde hatten sich entfernt, und auf See bekam er auch keinen Job mehr. Also hatte er sich den Leuten angeschlossen, die ihn noch haben wollten, und dort weitergemacht, wo er aufgehört hatte. Als Kurier. Rekrutiert von dem Ukrainer Nestor. Das Heroin aus Nordthailand wurde inzwischen per Lastwagen über die alte Drogenroute durch die Türkei und den Balkan transportiert. In Deutschland wurde der Stoff für die skandinavischen Länder aufgeteilt, und von dort hatte Johannes den Transport übernommen. Irgendwann hatte er dann als Spitzel angefangen.

Auch dafür hatte es eigentlich keinen konkreten Grund gegeben.

Vielleicht hatte der Polizist etwas in ihm angesprochen, von dessen Existenz er selbst nicht einmal gewusst hatte.

Auch wenn ihm die Aussicht auf ein ruhiges Gewissen nicht ganz so viel bedeutete wie der Kuss jener schönen Frau, hatte er diesem Polizisten vertraut. Seinen Augen. Vielleicht wäre Johannes tatsächlich umgekehrt, hätte aus seinem Leben etwas gemacht, wer wusste das schon. Doch dann hatte dieser Herbstabend alles zerstört. Der Polizist war getötet worden, und Johannes hatte zum ersten Mal seinen Namen gehört. Geflüstert mit einer Mischung aus Angst und Respekt: Zwilling.

Von diesem Moment an war es nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis Johannes wieder im Knast landete. Er war immer größere Risiken eingegangen und hatte immer größere Mengen transportiert. Ja, er hatte es richtiggehend darauf angelegt, gefasst zu werden. Wollte büßen für das, was er getan hatte. Es war für ihn schließlich die reinste Erleichterung gewesen, als sie ihn an der schwedischen Grenze hochnahmen. Die Möbel auf der Ladefläche waren mit Heroin vollgestopft. Der Richter hatte argumentiert, dass sich die Menge der Drogen und sein wiederholtes Fehlverhalten im Strafmaß niederschlagen müsse. Das war vor zehn Jahren gewesen. Er war gleich nach der Eröffnung vor vier Jahren ins Staten gekommen. Hatte Häftlinge kommen und gehen sehen, Wachmänner, und sie alle mit dem Respekt behandelt, den sie verdienten. Und mit der Zeit war auch ihm der Respekt entgegengebracht worden, den die Älteren verdienten. Die Ungefährlichen. Schließlich wusste niemand, dass er ein Geheimnis hatte. Dass er einen Verrat begangen und sich selbst diese Strafe aufgebürdet hatte. Die Hoffnung auf das, was ihm wirklich etwas bedeutete, hatte er längst aufgegeben. Der Kuss, der ihm von einer längst vergessenen Frau versprochen worden war. Das ruhige Gewissen, das ihm ein toter Polizist in Aussicht gestellt hatte. Bis Johannes dann irgendwann in den Zellentrakt A umgezogen war und den Jungen getroffen hatte, der heilende Kräfte haben sollte. Johannes war zusammengezuckt, als er seinen Namen gehört hatte.

Aber Johannes Halden hatte nichts gesagt. Er hatte gewischt, den Blick zu Boden gesenkt, gelächelt und die kleinen Dienste erbracht und entgegengenommen, die das Leben an einem solchen Ort erträglicher machten. So waren Tage, Wochen, Monate und Jahre vergangen, sie hatten sich zu einem Leben summiert, das nun bald zu Ende gehen sollte. Krebs. Lungenkrebs. Die kleinzellige Variante, hatte der Doktor gesagt. Der aggressive Typ, der beinahe unheilbar ist, falls er nicht früh erkannt wird.

Er war nicht früh erkannt worden.

Er konnte nichts tun. Und Sonny auch nicht. Der Junge war nicht einmal ansatzweise auf seine Krankheit gekommen, als Johannes ihn danach gefragt hatte. Er hatte auf etwas in der Leistengegend getippt. Und die Schulter war bestimmt von ganz allein wieder geheilt und nicht durch Sonnys Hand, schließlich war die auch nicht wärmer gewesen als die allgemein üblichen 37 Grad. Aber der Junge war gut, das musste man ihm lassen. Und wenn er wirklich daran glaubte, diese besonderen Fähig­keiten zu haben, wollte Johannes seinen Ruf auch nicht schä­digen.

So hatte Johannes die Krankheit und alles andere für sich behalten. Aber es eilte, das wusste er. Er durfte sein Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen. Nicht wenn er in Frieden ruhen wollte. Er wollte nicht als lebender Toter aufwachen, von Würmern zerfressen, eingesperrt, vor sich die nicht enden wollenden Qualen. Dabei war er nicht religiös, wusste nicht, wer warum in die Hölle musste, er hatte schon so oft danebengelegen.

»Schon so oft …«, sagte Johannes Halden halblaut zu sich selbst.

Deshalb stellte er den Wischmopp ab, ging zur Tür von Sonnys Zelle und klopfte an.

Keine Antwort. Er klopfte noch einmal.

Wartete.

Dann öffnete er die Tür. Sonny hatte den Gummiriemen um seinen Oberarm geschlungen, direkt über dem Ellenbogen. Das Ende hielt er mit den Zähnen fest. Er legte die Nadel auf eine dick hervortretende Ader. Der Winkel betrug die empfohlenen 30 Grad, um eine größtmögliche Trefferquote zu haben.

Er sah ruhig auf und lächelte. »Ja?«

»Tut mir leid … das … ich kann warten.«

»Sicher?«

»Ja … es eilt nicht.« Johannes lachte. »Auf eine Stunde mehr oder weniger kommt es jedenfalls nicht an. In vier Stunden?«

»Vier Stunden ist gut.«

Der Alte beobachtete, wie die Spitze der Kanüle in die Ader rutschte. Dann drückte der Junge den Stempel nach unten. Stille, Dunkelheit flutete durch den Raum wie schwarzes Wasser, und Johannes wich langsam zurück und schloss die Tür.

Kapitel 6

Das Handy am Ohr und die Beine auf dem Tisch, kippelte Simon mit dem Stuhl hin und her. Diese Kunst hatten sie in ihrer Troika derart perfektioniert, dass es in ihren Wettbewerben irgendwann nur noch darum gegangen war, wer von den drei Freunden am längsten durchhielt.

»Der Amerikaner wollte also nichts sagen?«, fragte er leise. Er sah keinen Grund, die anderen im Morddezernat an seinen privaten Angelegenheiten teilhaben zu lassen. Außerdem tele­fonierte er mit seiner Frau immer leise und zärtlich, als lägen sie engumschlungen im Bett.

»Schon«, sagte Else. »Aber noch nicht. Er will sich erst die ganzen Tests und auch die Bilder anschauen. Morgen kriege ich Bescheid.«

»Okay. Und wie fühlst du dich?«

»Gut.«

»Wie gut?«

Sie lachte. »Mach dir nicht so viele Gedanken, Liebling. Wir ­sehen uns zum Essen.«

»In Ordnung. Und deine Schwester? Ist sie noch …?«

»Ja, sie ist noch hier. Sie fährt mich nach Hause. Jetzt leg schon auf, du musst doch arbeiten.«

Widerstrebend beendete er das Gespräch und dachte an den Traum, in dem er ihr sein Augenlicht geschenkt hatte.

»Hauptkommissar Kefas?«

Er sah auf. Und legte den Kopf noch weiter in den Nacken. Die Frau, die vor seinem Tisch stand, war groß. Sehr groß. Und hager. Dünne Beine ragten unter dem Business-Rock hervor.