Simon sah sie lange an. Und nickte schließlich langsam. »Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht habe ich aber auch andere Beweggründe, als Sie glauben.«
»Dann müssen Sie mir sagen, was die Beweggründe sind.«
»Das kann ich nicht, Kari. Sie müssen mir einfach vertrauen.«
»Als wir bei Iversen waren, haben Sie gesagt, dass ich draußen warten soll, weil Sie nicht ganz nach Vorschrift vorgehen wollten. Ich will keine Vorschriften brechen, Simon. Ich will einfach meine Arbeit machen. Und wenn Sie mir nicht sagen, um was es hier geht …« Ein Zittern hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Sie ist wirklich verdammt müde, dachte Simon. »… dann muss ich irgendwem davon Meldung machen.«
Simon schüttelte den Kopf. »Tun Sie das nicht, Kari.«
»Und warum nicht?«
»Weil«, sagte Simon, suchte ihren Blick und sah sie fest an, »weil dieser Maulwurf noch immer da ist. Geben Sie mir vierundzwanzig Stunden. Bitte.«
Simon wartete ihre Antwort nicht ab. Warum auch. Er ließ sie stehen und ging zum Wagen. Spürte ihren Blick im Rücken.
Als er vom Holmenkollåsen nach unten fuhr, spielte Simon den Soundtrack des kurzen Telefonats mit Sonny ab. Das rhythmische Klopfen. Die übertriebenen Schreie. Die dünnen Wände im Hurenhotel Bismarck. Warum hatte er diese Geräusche nicht gleich erkannt?
Simon blickte auf den Jungen hinunter, der an der Rezeption des Hotels saß und den Polizeiausweis studierte. So viele Jahre waren seit damals vergangen, und doch war noch alles unverändert. Mal von dem Jungen abgesehen, der damals hier noch nicht gesessen hatte. Aber egal.
»Also, ich sehe ja, dass Sie von der Polizei sind, aber ich habe kein Gästebuch, das ich Ihnen zeigen kann.«
»Er sieht so aus«, sagte Simon und legte das Foto auf den Tisch.
Der Junge sah sich das Bild genau an und zögerte.
»Wir können auch gerne eine Razzia machen und dieses Rattenloch ein für alle Mal schließen«, sagte Simon. »Was würde Ihr Vater wohl sagen, wenn wir sein Bordell dichtmachen?«
Die Ähnlichkeit hatte ihn nicht getrogen, er hatte einen Treffer gelandet.
»Er wohnt in der zweiten Etage. Zimmer 216. Sie müssen da …«
»Ich finde den Weg. Geben Sie mir den Schlüssel.«
Der Junge zögerte erneut. Dann zog er eine Schublade auf, nahm einen Schlüssel von einem dicken Bund und reichte ihn Simon. »Aber ich will hier kein Chaos.«
Simon ging an den Aufzügen vorbei und lief mit großen Schritten die Treppe hinauf. Auf dem Flur oben achtete er auf alle Geräusche. Es war still. Vor dem Raum 216 nahm er seine Glock heraus und legte den Finger auf den Double-Action-Abzug. Er steckte den Schlüssel so lautlos wie möglich ins Schlüsselloch und drehte ihn herum. Mit der Pistole in der rechten Hand stellte er sich neben den Türrahmen und öffnete die Tür mit der linken. Er zählte bis vier, schob rasch den Kopf vor und wieder zurück. Atmete aus.
Im Raum war es dunkel, obwohl die Gardinen nicht zugezogen waren. Das Licht reichte aber, damit Simon das Bett sehen konnte.
Es war gemacht und leer.
Er trat ein und überprüfte das Bad. Eine Zahnbürste und Zahnpasta.
Er ging zurück und setzte sich im Dunkeln auf den völlig überflüssigen Stuhl, der an der Wand stand.
Dann nahm er sein Telefon und wählte eine Nummer. Irgendwo im Raum begann es zu piepen. Simon öffnete den Kleiderschrank. Oben auf einem Aktenkoffer lag ein Telefon, auf dem Display leuchtete Simon seine Nummer entgegen.
Er brach den Anruf ab und setzte sich wieder auf den Stuhl.
Sonny hatte das Telefon bewusst nicht mitgenommen, damit man ihn nicht aufspüren konnte. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass es jemand in einer so belebten Gegend finden würde.
Simon horchte in die Dunkelheit. Eine Uhr tickte dem Ende entgegen.
Markus war noch wach, als der Sohn die Straße herunterkam.
Das gelbe Haus hatte er beobachtet, seit diese andere Person vor einigen Stunden gekommen war. Er hatte sich nicht einmal ausgezogen, er wollte bereit sein.
Er erkannte den Sohn, der mitten auf der Straße lief, schon am Gang. Das Licht fiel auf ihn, wenn er unter den Laternen hindurchging. Er wirkte müde, vielleicht war er weit gelaufen, denn er schwankte etwas. Markus richtete sein Fernrohr auf ihn. Er trug einen Anzug, hielt sich die Seite und hatte sich ein rotes Tuch um die Stirn geschlungen. War das Blut in seinem Gesicht? Egal, er musste ihn warnen. Markus öffnete vorsichtig die Tür seines Schlafzimmers, schlich die Treppe runter, zog sich die Schuhe an und lief über das dünne Gras zum Gartentor.
Der Sohn bemerkte ihn und blieb vor dem Eingang zu seinem eigenen Grundstück stehen.
»Guten Abend, Markus. Solltest du nicht längst schlafen?«
Ruhig, mit weicher Stimme. Er sah aus, als wäre er im Krieg gewesen, sprach aber, als würde er eine Gutenachtgeschichte erzählen. Markus dachte, dass er selbst auch mit einer solchen Stimme reden wollte, wenn er groß war und keine Angst mehr hatte.
»Tut dir was weh?«
»Ich bin beim Fahren von etwas getroffen worden«, sagte der Sohn lächelnd. »Ist aber nicht so schlimm.«
»In deinem Haus ist jemand.«
»Oh?«, sagte der Sohn und drehte sich zu den schwarzen Fenstern um. »Polizei oder Gangster?«
Markus schluckte. Er hatte das Bild im Fernsehen gesehen. Aber er erinnerte sich auch daran, dass Mama gesagt hatte, man müsse vor ihm keine Angst haben, weil er es ja nur auf andere Bösewichte abgesehen habe. Und seine vielen Twitter-Fans schrieben, dass man es ruhig zulassen sollte, wenn sich die Schweine gegenseitig umbrachten. Das wäre auch nichts anderes, als wenn in der Landwirtschaft Schädlinge mit anderen Schädlingen bekämpft wurden.
»Weder noch, glaube ich.«
»Oh?«
Martha wachte davon auf, dass jemand in den Raum kam.
Sie hatte geträumt. Von der Frau auf dem Dachboden. Von dem Kind. Dass sie es lebendig im Keller gesehen hatte und dass es die ganze Zeit dort gewesen war, geweint hatte und nur darauf gewartet, endlich wieder rausgelassen zu werden. Und jetzt war es draußen, jetzt war es hier.
»Martha?«
Seine ruhige, warme Stimme klang ungläubig.
Sie drehte sich im Bett um und sah ihn an.
»Du hast gesagt, dass ich kommen kann«, sagte sie. »Niemand hat aufgemacht, aber ich wusste ja, wo der Schlüssel liegt.«
»Du bist gekommen.«
Sie nickte. »Ich habe dieses Zimmer genommen, okay?«
Er nickte nur und setzte sich auf die Bettkante.
»Die Matratze lag auf dem Boden«, sagte sie und streckte sich. »Übrigens ist ein Buch aus dem Lattenrost gefallen, als ich die Matratze wieder ins Bett gelegt habe. Ich habe es da drüben auf den Schreibtisch gelegt.«
»Wirklich?«
»Warum war die Matratze eigentlich auf dem Boden …?«
»Ich hatte mich darunter versteckt«, sagte er und sah sie an. »Als ich wieder aus dem Bett wollte, habe ich sie einfach auf den Boden geworfen und liegen gelassen. Was hast du da?«
Er hob die Hand, die er auf die Seite gepresst hatte, und berührte ihr Ohr. Sie antwortete nicht. Ließ ihn den Ohrring berühren. Ein Windhauch bewegte die Gardine, die sie in der Kiste gefunden und aufgehängt hatte. Ein Streifen Mondlicht fiel in den Raum, auf ihre Hand, auf sein Gesicht. Sie erstarrte.
»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, sagte er.
»Nicht die Wunde auf der Stirn, nein. Aber du blutest noch an einer anderen Stelle. Wo genau?«
Er schob die Jacke zur Seite. Die rechte Hälfte seines Hemdes war blutgetränkt.
»Was ist das?«
»Eine Kugel. Die hat mich gerade noch erwischt. Ist aber ein glatter Durchschuss. Ungefährlich. Es blutet nur ein bisschen, heilt dann aber von allein …«
»Halt den Mund«, sagte sie, warf die Decke zur Seite, nahm seine Hand und führte ihn ins Bad. Es kümmerte sie nicht, dass er dastand und sie in Unterwäsche sah, als sie den Medizinschrank durchsuchte. Sie fand zwölf Jahre alte Desinfektionsmittel, zwei Mullbinden, Kompressen, eine kleine Schere, Verbandsmaterial und Pflaster. Dann musste er den Oberkörper frei machen.