»Du liebst mich«, sagte er ihr leise ins Ohr. »Das tust du hier.«
»Ja und? Wer liebt denn jemanden, der Menschen umbringt? Jemanden, der alles tut, um selbst umgebracht zu werden, und dem das auch gelingen wird? Weißt du, wie sie dich im Internet nennen? Buddha mit dem Schwert. Sie haben ehemalige Häftlinge interviewt, die dich als eine Art Heiligen beschrieben haben. Aber weißt du was?« Sie wischte sich die Tränen ab. »Ich glaube, du bist genauso sterblich wie all die anderen, die ich im Ila kommen und gehen sah.«
»Wir verschwinden.«
»Wenn, dann jetzt.«
»Zwei sind noch übrig, Martha.«
Sie schüttelte den Kopf, und die Tränen flossen wieder, als sie mit den Fäusten auf seine Brust einhämmerte. »Es ist zu spät, verstehst du das denn nicht! Sie sind alle hinter dir her. Alle!«
»Es fehlen nur noch zwei. Der Typ, der beschlossen hat, dass mein Vater sterben muss, und so getan hat, als wäre mein Vater der Maulwurf. Und der Maulwurf selbst. Danach verschwinden wir.«
»Nur zwei? Du willst nur noch zwei Menschen umbringen und dann fliehen? Ist das für dich so leicht?«
»Nein, Martha. Es ist nicht leicht für mich. Bei keinem von denen war es leicht. Und es stimmt auch nicht, was man sagt. Es wird nicht leichter. Aber ich muss es tun, ich kann nicht anders.«
»Glaubst du wirklich, dass du das überleben wirst?«
»Nein.«
»Nein?«
»Nein.«
»Nein! Aber, mein Gott, warum redest du dann …«
»Weil Überleben das Einzige ist, was man planen kann.«
Sie wurde still.
Er streichelte ihr langsam über die Stirn, die Wange und den Hals. Dann begann er zu reden. Leise und langsam, als käme es darauf an, immer das richtige Wort zu wählen.
Sie hörte zu. Er sprach von seiner Kindheit und Jugend. Von seinem Vater. Von dessen Tod und von all dem, was danach passiert war.
Sie hörte zu und verstand. Hörte zu und konnte es nicht fassen.
Ein Streifen Sonnenlicht fiel durch die Gardine, als er fertig war.
»Weißt du eigentlich, was du da gesagt hast?«, flüsterte sie. »Wie verrückt das alles ist?«
»Ja«, sagte er. »Aber ich kann nicht anders.«
»Du kannst nichts anderes als Menschen umbringen?«
Er holte tief Luft. »Ich wollte immer nur so werden wie mein Vater. Als ich seinen Abschiedsbrief gelesen habe, war das alles mit einem Mal weg. Und ich auch. Aber dann, als ich im Gefängnis die wahre Geschichte erfuhr, dass er sein Leben für mich und meine Mutter geopfert hat, wurde ich neu geboren.«
»Geboren, um … das hier zu tun?«
»Ich wünschte mir wirklich, es gäbe einen anderen Weg.«
»Aber warum? Damit du in die Fußstapfen deines Vaters treten kannst? Damit der Sohn tut …« Sie kniff die Augen zusammen und presste die letzten Tränen heraus. Gelobte sich selbst, es würden die letzten sein. »… was der Vater nicht geschafft hat?«
»Er hat getan, was er tun musste. Und ich muss tun, was ich tun muss. Er hat uns zuliebe die Schande auf sich genommen. Wenn ich hiermit fertig bin, dann bin ich fertig. Das verspreche ich dir. Alles wird gut.«
Sie sah ihn lange an. »Ich muss nachdenken«, sagte sie schließlich. »Schlaf weiter.«
Er schlief, und sie lag wach. Erst als draußen die Vögel zu singen begannen, schlief auch sie wieder ein. Und da wusste auch sie es mit Sicherheit.
Sie war verrückt.
War es von dem Augenblick an gewesen, als sie ihn gesehen hatte.
Aber dass sie ebenso verrückt war wie er, hatte sie erst erkannt, als sie dieses Haus betrat, die Ohrringe von Agnete Iversen auf dem Küchentisch fand und sie anlegte.
Martha wachte vom Lachen und dem Herumgerenne der Kinder auf, die draußen auf der Straße spielten. Sie dachte daran, dass die Unschuld Hand in Hand mit der Unerfahrenheit ging. Dass Wissen nie Klarheit schaffte, sondern alles nur komplizierter machte. Er schlief so still neben ihr, dass sie einen Augenblick lang fürchtete, er sei bereits tot. Sie streichelte seine Wange. Er murmelte etwas, wachte aber nicht auf. Wie konnte ein gejagter Mann so gut schlafen? Der Schlaf des Gerechten? Bestimmt ein guter Schlaf.
Sie stieg aus dem Bett, zog sich an und ging nach unten in die Küche. Sie fand Brot, etwas Saft und Kaffee, sonst aber nichts. Vielleicht hatte er ja in der Gefriertruhe, auf der sie unten im Keller gesessen hatte, eine Tiefkühlpizza oder irgendetwas anderes. Sie ging nach unten und zog an dem Griff der Truhe. Verschlossen. Sie sah sich um. An einem Nagel an der Wand hing ein Schlüssel mit einem nicht mehr lesbaren kleinen Aufkleber. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Voilà. Sie klappte den Deckel hoch, beugte sich vor, spürte die Kälte an Brust und Hals, schrie laut und kurz auf und ließ den Deckel wieder fallen. Sie drehte sich um und sank mit dem Rücken an der Truhe zu Boden.
Sie blieb in der Hocke sitzen und atmete heftig durch die Nase. Versuchte den Anblick der Leiche zu verdrängen, die sie mit offenem weißen Mund und Eiskristallen an den Wimpern angestarrt hatte. Marthas Puls ging so schnell, dass ihr schwindelig wurde. Sie hörte auf das Pochen ihres Herzens. Und auf die Stimmen.
Es waren zwei.
Die eine schrie ihr ins Ohr, sie sei verrückt, er sei verrückt, ein Mörder, und sie solle nach oben laufen und durch die Tür verschwinden!
Die andere sagte, diese Leiche sei nur die Bestätigung dessen, was sie bereits wusste und längst akzeptiert hatte. Ja, er hatte Menschen ermordet. Menschen, die das verdienten.
Die schreiende Stimme befahl ihr aufzustehen und übertönte die Stimme, die ihr beruhigend zuflüsterte, das sei nur die Panik, die ja irgendwann kommen musste. Schließlich habe sie in der letzten Nacht ja eine Entscheidung gefällt. Oder etwa nicht?
Nein, das hatte sie nicht.
Das wurde ihr erst jetzt klar. Die Entscheidung, ob sie sich mit ihm in den Abgrund stürzen und sein Leben teilen oder hier in der normalen Welt bleiben sollte, stand erst jetzt an.
Die letzte Chance für einen Rückzug. Die nächsten Sekunden waren die wichtigsten in ihrem Leben.
Die letzte Möglichkeit, um …
Sie stand auf. Ihr war noch immer schwindelig, trotzdem wusste sie, sie konnte schnell laufen und er könnte sie niemals einholen. Sie atmete tief ein, und das Blut transportierte den Sauerstoff ins Hirn. Sie stützte sich auf den Deckel der Gefriertruhe und sah ihr eigenes Spiegelbild auf dem blanken Lack. Die Ohrringe.
Ich liebe ihn. Ja, das tue ich.
Dann öffnete sie noch einmal den Deckel.
Der Leichnam hatte den größten Teil der Lebensmittel vollgeblutet. Außerdem kam ihr das Design der Fisch-Packungen, die sie sah, ziemlich unmodern vor. Mindestens zwölf Jahre alt. Das konnte stimmen.
Sie konzentrierte sich auf ihren Atem, auf ihre Gedanken, darauf, all das zu verdrängen, was nicht wichtig war. Wenn sie etwas essen wollten, musste sie in einen Laden gehen. Sie konnte eines der Kinder fragen, wo der nächste Laden war. Ja, das würde sie tun. Eier und Speck. Frisches Brot, Erdbeeren. Joghurt.
Sie schloss die Truhe. Kniff die Augen zu. Glaubte wieder weinen zu müssen. Doch stattdessen begann sie zu lachen. Das hysterische Lachen eines Menschen, der sich im freien Fall befindet, dachte sie. Sie öffnete die Augen und ging zur Treppe. Oben merkte sie, dass sie ein Lied summte.
That you’ve always been her lover and you want to travel with her.
Verrückt.
… and you want to travel blind and you know that she will trust you.
Verrückt, verrückt.