»Auf welcher Basis haben Sie die ausgewählt?«
»Dass er bar bezahlt hat. Das tut heute kaum noch jemand.«
»Klug. Viel Glück.«
»Danke.«
Kari ging die Treppe hinunter, auf Höhe des Wassersprengers hörte sie hinter sich Schritte. Parr.
»Mir ist noch was eingefallen«, sagte er. »Nach allem, was ich gehört habe, ist es ja wohl nicht auszuschließen, dass Sie zu guter Letzt Lofthus finden.«
»Ja?«, sagte Kari und wusste, es klang genauso selbstbewusst, wie es klingen sollte.
»Denken Sie in dem Fall bloß daran, dass er bewaffnet ist und gefährlich. Jeder würde es verstehen, wenn Sie gezwungen wären zu schießen.«
Kari strich sich die widerspenstigen Haare aus der Stirn. »Was meinen Sie genau damit?«
»Nur dass Sie bei diesem Mörder wirklich schnell zur Waffe greifen sollten. Denken Sie daran, dass er bereits einen anderen Beamten gefoltert hat.«
Kari spürte die feinen Wassertropfen, die der Wind herübertrug, auf dem Gesicht. »Okay«, sagte sie.
»Ich schließe mich auch noch mit dem Leiter von Kripos kurz«, sagte Parr. »Es wäre vielleicht gar nicht so schlecht, wenn Sie und Åsmund Bjørnstad in diesem Fall ein Team bildeten. Ich denke, Sie haben in vielem die gleiche Einstellung.«
Simon starrte in den Spiegel. Die Jahre vergingen, die Zeit verrann. Er war nicht mehr der Mann, der er vor fünfzehn Jahren gewesen war. Und auch nicht der von vor zweiundsiebzig Stunden. Früher hatte er sich einmal für unbesiegbar gehalten und später dann für Abschaum. Inzwischen war er zu dem Schluss gekommen, dass er nichts von beidem war, sondern einfach nur ein Mensch aus Fleisch und Blut, der das Richtige tun oder sich von seinen niedrigsten Instinkten leiten lassen konnte. Aber gab es dann überhaupt so etwas wie einen freien Willen? Würden nicht alle – angesichts der gleichen Aufgaben, der gleichen Chancen, der gleichen Aussichten auf Gewinn oder Verlust – dieselben Entscheidungen fällen, und das wieder und wieder? Es hieß, man könne seine Sicht auf die Dinge verändern, könne zum Beispiel klüger werden durch eine neue Frau im Leben und erkennen, was wesentlich ist. Vielleicht hatte sich aber auch die Gleichung verändert, und nun waren deshalb andere Dinge wichtig? Gerechnet wurde noch immer auf die gleiche Weise. Und jede neue Entscheidung wurde wieder und wieder so getroffen, ausgelöst durch die Zusammensetzung chemischer Stoffe im Gehirn, die zugrundeliegenden Informationen, den Überlebensinstinkt, den Sexualtrieb, die Angst vor dem Tod, den Herdentrieb und die erlernte Moral. Wir bestrafen andere Menschen nicht, weil sie schlecht sind, sondern weil sie die falschen Entscheidungen treffen; weil sie etwas getan haben, was für die Herde schlecht ist. Moral ist nichts für die Ewigkeit, und sie ist auch nicht vom Himmel gefallen, es gibt einfach Regeln, die für das Wohlergehen der Herde notwendig sind. Wer nicht in der Lage ist, sich an diese Regeln zu halten, sich bestimmte Handlungsmuster anzueignen, hat keine Chance, denn der freie Wille hilft hier nicht weiter – er ist eine Illusion. Denn wie alle anderen tut auch der Kriminelle nur, was er tun muss. Und wir müssen sie ausschalten, damit sie sich nicht zusammenschließen und die Herde mit ihrem nichtfunktionalen Verhalten anstecken.
Als Simon Kefas sich an diesem Abend im Spiegel ansah, erblickte er einen Roboter. Eine komplizierte Konstruktion mit vielen Möglichkeiten. Aber eben doch ein Roboter.
Wofür wollte er diesen Jungen also bestrafen? Was hatte Sonny vor? Eine Welt retten, die nicht gerettet werden wollte? Etwas ausrotten, dessen Nutzen wir uns nicht eingestehen wollen? Denn wer schaffte es denn, in einer Welt ohne Kriminalität zu leben, ohne den stumpfsinnigen Aufruhr der Idioten, ohne das Irrationale, das für Bewegung sorgt, für Veränderung. Ohne Hoffnung auf eine bessere – oder schlechtere – Welt. Es ist die teuflische Ruhelosigkeit, der Trieb des Hais, ständig in Bewegung zu bleiben und Sauerstoff aufzunehmen. »Es ist gut, wie es ist. Jetzt. Lass uns hierbleiben. So.« Nur passiert das nie.
Simon hatte die Schritte gehört und kontrolliert, ob die Waffe auch entsichert war.
Der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht. Schnelle Schritte. Er zählte die Sekunden, ließ sich im Spiegel über dem Waschbecken im Bad nicht aus den Augen. Der Junge hatte gesehen, dass alles im Zimmer unverändert war, entspannte sich automatisch und ließ die Deckung fallen. Er konnte ins Bad kommen, doch dann hätte er eine Schusswaffe längst abgelegt. Simon zählte weiter.
Bei zwanzig öffnete er die Tür und trat mit gezückter Pistole in den Raum.
Der Junge saß auf dem Bett.
Er trug eine Bandage um den Kopf. Vor ihm auf dem Boden lag der Aktenkoffer aus dem Schrank. Er war offen und voller Tüten mit einer weißlichen Substanz. Simon musste nicht fragen, was das war. Der Junge hatte in eine der Tüten ein Loch gemacht. In der linken Hand hielt er einen Teelöffel mit Pulver, in der anderen ein Feuerzeug. Auf dem Bett lagen eine Packung Einwegspritzen und ein Set Kanülen.
»Und wer schießt jetzt zuerst?«, fragte der Junge.
Kapitel 41
Er setzte sich vor ihn auf einen Stuhl. Sah, wie er das Feuerzeug unter den Löffel hielt.
»Wie haben Sie mich gefunden?«
»Das Telefon«, sagte Simon, ohne die Flamme aus den Augen zu lassen. »Und die Hintergrundgeräusche. Huren bei der Arbeit. Weißt du, wer ich bin?«
»Simon Kefas«, sagte der Junge. »Ich kenne Sie von den Bildern.« Der Stoff löste sich auf. Kleine Bläschen stiegen an die Oberfläche. »Ich werde mich nicht wehren. Ich hatte eh vor, mich noch heute zu stellen.«
»Oh! Warum? Ist dein Kreuzzug vorbei?«
»Es gibt keinen Kreuzzug«, sagte der Junge und legte den Teelöffel vorsichtig zur Seite. Simon wusste, das flüssige Heroin musste erst ein bisschen abkühlen. »Es gibt Menschen mit blindem Glauben, Menschen, die an allem festhalten, was sie als Kind gelernt haben. Aber irgendwann kapieren auch die, dass die Welt so nicht funktioniert. Dass wir alle nur Dreck sind. Nichts als Abfall.«
Simon legte die Waffe auf seine Handfläche und sah sie an. »Ich will dich nicht zur Polizei bringen, Sonny, sondern zum Zwilling. Dich, das Dope und das Geld, das du ihm gestohlen hast.«
Der Junge blickte auf, während er das Plastik von einer Spritze riss. »Okay, aber was macht das für einen Unterschied? Will er mich töten?«
»Ja.«
»Abfallbeseitigung. Aber erst die Spritze, ja?« Er legte einen Wattebausch auf den Löffel, drückte die Spitze der Spritze hinein und zog die Spritze auf. »Ich kenne den Stoff nicht, weiß nicht, ob der mit irgendeinem Scheiß versetzt ist«, sagte er, um die Watte zu erklären.
Dann sah er Simon an, als wollte er sich vergewissern, dass dieser die Ironie verstanden hatte.
»Der Stoff aus Kalle Farrisens Drogendepot«, sagte Simon. »Du hast ihn die ganze Zeit gehabt und bist nie in Versuchung gekommen, ihn mal auszuprobieren?«
Der Junge lachte kurz und hart.
»Schlecht formuliert«, sagte Simon. »Vergiss das mit der Versuchung. Aber du bist standhaft geblieben. Wie?«
Der Junge zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß ein bisschen was über Abhängigkeit«, sagte Simon. »Die Liste der Dinge, die uns die Kraft geben können, standhaft zu bleiben, ist nicht lang. Entweder ist uns Jesus begegnet, ein Mädchen, unser eigenes Kind oder der Mann mit der Sense. In meinem Fall war es ein Mädchen. Und in deinem?«
Der Junge antwortete nicht.
»Dein Vater?«
Der Junge sah Simon nur forschend an, als wäre ihm etwas klargeworden.
Simon schüttelte den Kopf. »Ihr seid euch so ähnlich. Das ist jetzt noch viel besser zu sehen als auf den Bildern.«
»Es hieß doch immer, dass er und ich uns gar nicht ähnlich sehen.«
»Nicht du und dein Vater. Du und deine Mutter. Du hast ihre Augen. Sie ist immer irrsinnig früh aufgestanden, vor uns, hat gefrühstückt und ist dann zur Arbeit gerannt. Manchmal bin ich früh aufgestanden, um sie einfach da sitzen zu sehen, ungeschminkt und müde, aber mit diesen unfassbar schönen Augen.«