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Der Junge sah ihn regungslos an.

Simon drehte die Pistole hin und her, als suchte er etwas. »Wir waren vier junge Leute aus einfachen Verhältnissen, die sich in Oslo eine Wohnung teilten, das war am billigsten. Drei Jungs, die auf die Polizeischule gingen, und deine Mutter. Die Jungs bezeichneten sich als die Troika und waren enge Freunde. Dein Vater, Pontius Parr und ich. Deine Mutter hat mit einer Zeitungsannonce eine Unterkunft gesucht und bekam das leere Zimmer. Ich glaube, wir haben uns alle drei schlagartig in sie verliebt, als wir sie sahen.« Simon lächelte. »Wir haben uns gegenseitig belauert und ihr heimlich den Hof gemacht. Und wir waren drei hübsche Kerle, ich glaube, sie wusste nicht recht, wen sie nehmen sollte.«

»Das wusste ich nicht«, sagte der Junge. »Aber ich weiß, dass sie die falsche Entscheidung getroffen hat.«

»Ja«, sagte Simon, »sie hat mich genommen.«

Simon sah von seiner Pistole auf. Begegnete dem Blick des Jungen.

»Deine Mutter war die Liebe meines Lebens, Sonny. Ich war drauf und dran draufzugehen, als sie mich verlassen hat und deinen Vater nahm. Besonders als kurz darauf klar war, dass sie ein Kind bekam. Die beiden sind ausgezogen und haben sich das Haus in Berg gekauft. Sie schwanger, er Student, sie waren arm wie die Kirchenmäuse. Aber die Zinsen waren niedrig, die Banken warfen den Leuten das Geld in diesen Jahren beinahe hinterher.«

Sonny hatte nicht ein einziges Mal geblinzelt. Simon räusperte sich.

»Um diese Zeit herum begann ich dann richtig zu spielen. Ich hatte bereits Schulden, fing aber trotzdem oder gerade deshalb mit Pferdewetten an. Mit hohen Einsätzen. Es war irgendwie befreiend, am Rande des Abgrunds zu stehen und zu wissen, dass sich dadurch etwas ändern würde, was auch passierte. Rauf oder runter, das war beinahe das Gleiche. Damals sind dein Vater und ich uns fremd geworden. Ich habe sein Glück einfach nicht verkraftet. Er und Pontius waren ein eingeschworenes Team, die Troika gab es nicht mehr. Ich habe irgendeine Entschuldigung vorgebracht, als er mich fragte, ob ich dein Pate werden wollte, hab mich aber trotzdem hinten in die Kirche geschlichen, als du getauft wurdest. Du warst das einzige Baby, das nicht geschrien hat. Du hast einfach nur ruhig und lächelnd zu dem neuen, noch etwas nervösen Pastor aufgeschaut, als würdest du ihn taufen und nicht umgekehrt. Dann bin ich gegangen und habe dreizehntausend Kronen auf ein Pferd mit Namen Sonny gesetzt.«

»Und?«

»Du schuldest mir dreizehntausend.«

Der Junge lächelte. »Warum erzählen Sie mir das alles?«

»Weil ich mich manchmal gefragt habe, ob nicht alles auch ganz anders hätte laufen können. Ich andere Entscheidungen treffen, Ab anders hätte handeln können. Oder du. Einstein hat gesagt, der Mensch ist wirklich verrückt, der immer wieder dieselbe Rechenaufgabe löst und glaubt, irgendwann zu einem anderen Ergebnis zu kommen. Aber was, wenn Einstein sich irrt, Sonny? Kann es etwas geben, eine göttliche Inspiration, die uns vielleicht dennoch beim nächsten Mal anders handeln lässt?«

Der Junge band sich einen Gummiriemen um den Oberarm. »Sie hören sich wie ein gläubiger Mensch an, Simon Kefas.«

»Ich weiß es nicht, ich frage bloß. Aber ich weiß, dass dein ­Vater die gute Absicht hatte, egal, wie hart du ihn verurteilst. Er wollte ein besseres Leben schaffen, aber nicht für sich selbst, sondern für euch drei. Und diese Liebe war sein Schicksal. Und jetzt verurteilst du dich ebenso hart, weil du euch für Abbilder hältst. Aber du bist nicht dein Vater. Dass er moralisch versagt hat, heißt noch lange nicht, dass auch du moralisch versagst. Die Söhne tragen doch nicht die Verantwortung, wie ihre Väter zu werden, sondern sollen besser als sie sein.«

Der Junge biss in das Ende des Gummiriemens. »Mag sein, aber was spielt das noch für eine Rolle?«, sagte er aus dem Mundwinkel, legte den Kopf nach hinten, so dass der Riemen sich straffte und die Adern auf dem Unterarm deutlich hervortraten. Er hielt die fertige Spritze in der freien Hand, den Daumen auf dem Kolben, die Spritze mit dem Mittelfinger stabilisierend. Wie ein chinesischer Tischtennisspieler, dachte Simon. Sonny hatte die Spritze in der rechten Hand, obwohl er Linkshänder war, aber Simon wusste, dass Junkies es mit beiden Händen können mussten.

»Es spielt eine Rolle, weil jetzt du entscheiden musst, Sonny. Setzt du dir diese Spritze? Oder hilfst du mir, den Zwilling zu schnappen? Und den wirklichen Maulwurf?«

Ein Tropfen glitzerte an der Spitze der Nadel. Von der Straße waren Autos und Lachen zu hören, und im Nebenzimmer unterhielten sich leise zwei Leute. Stadt mit ruhigem Sommerpuls.

»Ich will ein Treffen organisieren, zu dem sowohl der Zwilling als auch der Maulwurf kommt. Aber dafür musst du am Leben sein, sonst geht das nicht. Du bist der Lockvogel.«

Der Junge hörte ihm ganz offensichtlich nicht zu, er hatte den Kopf gesenkt, seinen Körper irgendwie um die Spritze gelegt und schien sich auf den Rausch vorzubereiten. Simon biss die Zähne zusammen. Und war überrascht, als er Sonnys Stimme hörte:

»Wer ist das? Der Maulwurf?«

»Das siehst du, wenn du mitkommst, vorher nicht. Ich weiß, was du durchmachst, Sonny. Aber irgendwann kommst du an einen Punkt, an dem du nichts mehr aufschieben kannst, dir nicht erlauben kannst, einfach noch einen Tag schwach zu sein und dir wieder einmal zu versprechen, morgen beginne ich mit meinem anderen Leben.«

Sonny schüttelte den Kopf. »Es gibt kein anderes Leben.«

Simon starrte auf die Spritze. Und ihm wurde klar, dass das eine Überdosis war.

»Willst du wirklich sterben, Sonny, ohne Bescheid zu wissen?«

Der Junge blickte nicht mehr die Spritze an, sondern Simon.

»Sehen Sie denn nicht, wohin mich das gebracht hat, Kefas?«

»Hier?«, fragte Åsmund Bjørnstad und beugte sich über das Lenkrad. Er las das Schild über dem Eingang. »Hotel Bismarck.«

»Ja«, sagte Kari und löste den Sicherheitsgurt.

»Und Sie sind sich sicher, dass er hier ist?«

»Simon hat überlegt, welche Hotels in Kvadraturen Barzahlung akzeptieren. Ich gehe davon aus, dass er etwas weiß, und habe deshalb die sechs Hotels angerufen und ihnen Bilder von Sonny Lofthus geschickt.«

»Und das Bismarck war ein Treffer?«

»An der Rezeption hat man mir bestätigt, dass der Mann auf dem Bild in Zimmer 216 wohnt. Und mir gesagt, ein Polizist sei schon da und habe sich Zugang zu dem Zimmer verschafft. Das Hotel habe einen Deal mit der Polizei gemacht, an den auch wir uns bitte halten sollen.«

»Simon Kefas?«

»Ich fürchte schon.«

»Okay, dann los.« Åsmund Bjørnstad nahm das Walkie-Talkie und drückte den Sprechknopf. »Delta, bitte kommen.«

Es knackte in den Lautsprechern. »Delta hört, over

»Sie können reingehen. Er ist in Zimmer 216.«

»Verstanden. Wir gehen rein. Over and out.«

Bjørnstad legte das Walkie-Talkie weg.

»Wie lautet Ihre Anweisung?«, fragte Kari, sie hatte das Gefühl, dass ihre Kleider zu eng wurden.

»Die eigene Sicherheit hat Priorität, wenn nötig, dürfen töd­liche Schüsse abgegeben werden. Wohin wollen Sie?«

»Ich muss an die Luft.«

Kari lief über die Straße. Vor ihr stürmten schwarzgekleidete Polizisten mit MP5-Maschinenpistolen zum Hotel. Einige verschwanden in der Rezeption, andere im Hinterhof, wo die Außentreppe und der Notausgang waren.

Sie war gerade an der Rezeption, als oben die Tür krachte und die Schockgranate dumpf explodierte. Auf dem Flur hörte sie dann durch das Walkie-Talkie: »Bereich gesichert.«

Sie rannte durch die Tür.

Vier Polizisten: einer im Bad, drei im Schlafzimmer. Alle Schranktüren und das Fenster waren geöffnet.

Niemand sonst. Keine persönlichen Dinge. Der Gast hatte ausgecheckt.

Markus hockte auf dem Rasen und suchte nach Fröschen, als der Sohn das gelbe Haus verließ und auf ihn zusteuerte. Die Nachmittagssonne stand tief über den Dächern. Es wirkte fast so, als kämen die Strahlen aus dem Kopf des Sohnes, als er vor Markus stand. Er lächelte, und Markus freute sich, dass er nicht mehr so unglücklich aussah wie noch am Morgen.