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»Danke für alles, Markus.«

»Willst du verreisen?«

»Ja, ich gehe jetzt.«

»Warum müssen immer alle verschwinden?«, rutschte es Markus heraus.

Der Sohn ging vor ihm in die Hocke und legte Markus die Hand auf die Schulter. »Ich erinnere mich an deinen Vater, Markus.«

»Wirklich?«, fragte Markus ungläubig.

»Ja, und egal was deine Mutter sagt, zu mir war er immer nett. Und einmal hat er einen Riesenelch vertrieben, der sich hierher aus dem Wald verirrt hatte.«

»Echt?«

»Ja, ganz allein.«

Markus sah etwas Merkwürdiges. Hinter dem Kopf des Sohnes, in dem offenen Fenster des gelben Hauses, flatterten die dünnen weißen Gardinen, obwohl es ganz windstill war.

Der Sohn stand auf und fuhr mit den Fingern durch Markus’ Haare. Dann ging er pfeifend die Straße hinunter, in der Hand den Aktenkoffer. Etwas ließ Markus plötzlich zum gelben Haus hinübersehen. Die Gardinen standen in Flammen, und alle Fenster waren geöffnet. Alle.

Ein Elchbulle, dachte Markus. Mein Papa hat einen Elch vertrieben.

Das Haus gab ein seltsames Geräusch von sich, als saugte es Luft ein. Dann wurde aus dem saugenden Geräusch ein Grummeln mit immer lauter werdenden, singenden Obertönen, das schließlich wie eine bedrohliche, triumphierende Musik klang. Hinter den schwarzen Fenstern sah er die gelben Tänzerinnen, die hin und her sprangen, sich wiegten und bereits den Untergang feierten, den Tag des Jüngsten Gerichts.

Simon kuppelte aus, rollte an den Straßenrand und ließ den Motor laufen

Etwas entfernt, vor seinem Haus, stand ein Auto. Ein neuer blauer Ford Mondeo. Mit getönten Heckscheiben. Auch vor der Augenabteilung des Krankenhauses hatte ein solcher Wagen gestanden. Natürlich konnte das ein Zufall sein, andererseits waren im Polizeidistrikt Oslo im letzten Jahr acht solcher Wagen angeschafft worden. Mit getönten Scheiben, damit man das hinter den Kopfstützen verstaute Blaulicht nicht sehen konnte.

Simon nahm sein Handy, das auf dem Beifahrersitz lag, und wählte eine Nummer.

Das Gespräch wurde schon nach dem ersten Klingeln angenommen.

»Was willst du?«

»Hallo, Pontius. Findest du es frustrierend, dass mein Telefon immer in Bewegung ist?«

»Lass diesen Schwachsinn, Simon, ich verspreche dir auch, es hat für dich keine Folgen.«

»Keine?«

»Nicht, wenn du jetzt zur Vernunft kommst. Ist das ein Deal?«

»Du willst immer einen Deal, Pontius. Aber ich kann dir einen anderen vorschlagen: Du kommst morgen früh in ein Restaurant.«

»Ach ja? Und was gibt’s zu essen?«

»Ein paar Kriminelle. Mit deren Festnahme du dir eine weitere Feder an den Hut stecken kannst.«

»Details?«

»Kriegst du nicht. Aber Adresse und Zeitpunkt, wenn du mir versprichst, nur eine weitere Person mitzubringen. Meine Kollegin Kari Adel.«

Für einen Moment blieb es still.

»Willst du mich austricksen, Simon?«

»Habe ich das jemals getan? Vergiss nicht, dass du eine Menge gewinnen kannst. Oder anders ausgedrückt: Wenn du diese Leute entkommen lässt, wird’s für dich eng.«

»Dein Wort, das ist keine Falle?«

»Ja, glaubst du, ich würde es riskieren, dass Kari etwas passiert?«

Pause.

»Nein, nein, das sähe dir nicht ähnlich, Simon.«

»Vermutlich bin ich deshalb nie Polizeipräsident geworden.«

»Wie witzig. Wann und wo?«

»Viertel nach sieben. Aker Brygge 86. Bis dann.«

Simon öffnete das Seitenfenster und warf das Telefon raus. Es verschwand hinter dem Zaun des Nachbarn. In der Ferne hörte er die Sirenen der Feuerwehr.

Er legte den Gang ein und gab Gas.

Er fuhr nach Westen und bog bei Smestad in Richtung Holmenkollåsen ab. Langsam fuhr er die Kurven hinauf zu dem Ort, der ihm immer ein Gefühl von Überblick vermittelte. Der Honda war längst vom Aussichtspunkt entfernt worden. Die Kriminaltechniker hatten ihre Arbeit abgeschlossen. Schließlich war dieser Platz ja auch kein Tatort.

Jedenfalls nicht in einem Mordfall.

Simon parkte den Wagen so, dass er den Sonnenuntergang über dem Fjord im Blick hatte. Je dunkler es wurde, desto mehr glich Oslo einem langsam verlöschenden Lagerfeuer mit zuckender roter und gelber Glut. Simon schlug den Mantelkragen hoch und kippte den Sitz nach hinten. Er musste versuchen zu schlafen. Morgen war ein großer Tag. Der größte.

So ihnen das Glück denn beistand.

»Probier mal die hier«, sagte Martha und reichte dem Jungen eine Jacke.

Er war relativ neu, sie hatte ihn erst einmal im Ila gesehen. Er war maximal zwanzig und würde mit Glück fünfundzwanzig werden. Das vermuteten jedenfalls die anderen Mitarbeiter.

»Toll, die steht dir!«, sagte sie lächelnd. »Und vielleicht die hier dazu?« Sie reichte ihm eine kaum getragene Jeans. Als sie spürte, dass jemand hinter sie getreten war, drehte sie sich um. Er musste durch das Café hereingekommen sein und stand vielleicht schon eine ganze Weile in der Tür des Kleiderlagers. Der Anzug und der Verband um den Kopf waren auffällig, aber das alles sah Martha nicht. Sie hatte nur Augen für seinen durchdringenden, sinnlichen Blick.

Für das, was sie nicht haben wollte. Für das, was sie haben wollte.

Lars Gilberg drehte sich in seinem nagelneuen Schlafsack um. Der Verkäufer im Sportgeschäft hatte skeptisch auf den Tausender geblickt, bevor er ihn akzeptiert und Gilberg das Wunderding überlassen hatte. Lars blinzelte.

»Du bist zurück«, stellte er fest. »Uih, bist du jetzt ein Hindu?« Seine Stimme dröhnte und hallte unter dem Brückengewölbe ­wider.

»Mag sein«, sagte der Mann, der fröstelnd neben ihm in der Hocke saß und lächelte. »Ich brauche heute Nacht einen Ort, an dem ich schlafen kann.«

»Bitte. Auch wenn du aussiehst, als könntest du dir etwas Besseres leisten.«

»Da finden sie mich.«

»Hier ist Platz genug, und überwacht werden wir hier auch nicht.«

»Kann ich mir ein paar Zeitungen ausborgen? Natürlich nur, wenn du sie schon gelesen hast.«

Gilberg lachte. »Du kannst meinen alten Schlafsack haben, den nehme ich nur noch als Matratze.« Er zog den dreckigen, löchrigen Schlafsack unter sich hervor. »Oder weißt du was? Nimm den neuen. Ich schlafe heute Nacht noch einmal in meinem alten. Da ist ein bisschen zu viel von mir drin, um das mal so zu sagen.«

»Wirklich?«

»Ja, ja, der sehnt sich sicher schon nach mir.«

»Danke, Lars, vielen, vielen Dank.«

Lars Gilberg antwortete mit einem Lächeln.

Und als er sich wieder hinlegte, spürte er eine wohlige Wärme, die nicht aus dem Schlafsack, sondern von innen kam.

Es ging wie ein Seufzen durch die Korridore, als alle Zellen­türen des Staten gleichzeitig für den Abend und die Nacht ver­riegelt wurden.

Johannes Halden setzte sich auf sein Bett. Was er auch tat, ob er saß, lag oder stand, die Schmerzen waren immer gleich. Er wusste genau, dass sie nie mehr verschwinden, sondern nur noch schlimmer werden würden. Die Krankheit war ihm jetzt auch anzusehen. Als Folge des Lungenkrebses waren seine Lymphknoten angeschwollen. Einer hatte bereits die Größe eines Golfballs.

Arild Franck hatte sein Versprechen gehalten. Weil er dem ­Jungen geholfen hatte, sollte Johannes von seiner Krankheit zerfressen werden, ohne einen Arzt konsultieren oder Schmerz­mittel nehmen zu können. Vielleicht schickte Franck ihn irgendwann auf die Krankenstation, wenn er der Meinung war, dass Johannes genug gelitten hatte und dem Tod nahe war oder dass ein weiterer Todesfall in der Zelle in den Akten nicht gut aussah.

Es war so still. Kameraüberwacht und still. Früher hatten die Wachleute nach der Schließzeit noch ihre Runde gemacht, und irgendwie hatten ihre Schritte beruhigende Wirkung auf ihn gehabt, und in Ullersmo hatte einer der Wachleute, Håvelsmo, ein alter, frommer Mann, dabei sogar gesungen. Alte Psalmen, vorgetragen mit einem tiefen Bariton. Das waren die besten Wiegenlieder, die ein Langzeithäftling bekommen konnte. Selbst die schlimmsten Psychotiker verstummten, wenn sie Håvelsmo auf dem Flur hörten. Johannes wünschte sich, Håvelsmo wäre nun hier. Oder der Junge. Aber er durfte sich nicht beklagen. Von dem Jungen hatte er bekommen, was er sich so sehr gewünscht hatte, Vergebung. Und ein Wiegenlied obendrein.