Oregon, in den Cascade Mountains, im Februar 1864
Die schlanke blonde Frau schloß mit ihrem Leben ab, als die lange Klinge des Bowiemessers dicht vor ihren Augen aufblitzte.
Ihr schönes Gesicht war vor Angst verzerrt - die Angst vor dem Tod und noch mehr darum, was mit ihrem kleinen Sohn geschehen würde.
In ihren ausdrucksstarken grünblauen Augen stand die unendliche Trauer geschrieben, nicht mehr erleben zu dürfen, wie der noch nicht mal ein Jahr alte Jamie heranwuchs.
Falls er heranwachsen durfte!
Vielleicht ließ der Mann, der mit festem, schmerzhaften Griff Irenes Haar gepackt hielt, um ihr den Skalp zu nehmen und sie dann zu töten, seinen wahnsinnigen Haß auch an dem kleinen Kind aus, das ohne seine Mutter völlig schutzlos sein würde.
Dieser Gedanke war für die junge deutsche Auswanderin Irene Sommer der schrecklichste von allen.
Frazer Bradden war ohne Zweifel wahnsinnig.
Die Trauer um den Verlust seiner Frau und seiner Kinder hatte ihn um den Verstand gebracht.
*
Frazer Braddens Familie war über Weihnachten an einem Fieber gestorben wie die meisten Siedler des Städtchens Greenbush am Osthang der Cascade Mountains.
Dieses mächtige Gebirge zog sich in Nord-Süd-Richtung durch den ganzen Staat Oregon, als hätte der Schöpfer das Land dadurch vom Meer trennen wollen. Eine natürliche Grenze für die Menschen, die das Land besiedelten und immer weiter nach Westen vordrangen.
Aber längst hatten die Menschen die Cascade Range überwunden, und längst gab es Siedlungen und Städte an der Westküste Oregons, die gleichzeitig die Westküste der Vereinigten Staaten von Amerika war.
Eine der Küstenstädte war das Ziel gewesen, das Irene zusammen mit Jacob Adler, ihrem Freund und Beschützer, ansteuerte, als sie bei der ersten Schneeschmelze mit ihrem Planwagen in die zerklüftete Welt der Berge eintauchten.
Der Frühling erwachte im Gelobten Land, wie Oregon von den Auswanderern verheißungsvoll und ehrfürchtig genannt wurde. Und mit ihm erstarkte in Irene und Jacob der Wunsch, weiterzureisen.
Irene wollte nach Kalifornien zu Carl Dilger, Jamies Vater.
Und Jacob wollte danach weiter nach Texas, wo er seinen Vater und seine Geschwister zu finden hoffte.
Deshalb hatten sie ihre Freunde in der jungen Siedlung Abners Hope verlassen, wenn auch schweren Herzens.
Aber alles war ganz anders gekommen. Plötzlich schien Oregon die Endstation ihrer langen Reise zu werden.
Gestern waren sie den letzten Überlebenden von Greenbush begegnet - dem Treck der Verdammten.
Jacob und Irene hatte ihnen beim Kampf gegen angreifende Krieger vom Stamm der Nez Perce beigestanden, ohne zu ahnen, daß die Indianer einen guten Grund für ihren Haß auf die Weißen hatten. Denn während die Krieger auf der Jagd waren, hatten die Weißen das Indianerlager überfallen und alle getötet: Alte, Frauen und Kinder. Ihre Skalps lagen in den Planwagen, und die Skalps der gestern getöteten Krieger hingen zum Trocknen am Kasten von Fred Myers' Conestoga.
Der Grund für den Überfall auf das Nez-Perce-Dorf war wahnwitzig. Die Leute aus Greenbush schoben den Indianern die Schuld an dem großen Sterben zu, das über die Stadt der Weißen gekommen war. Nur weil auch die Nez Perce vom Fieber heimgesucht wurden und Hilfe von dem Missionar und Arzt Simon Mercer erhielten. Der Bote der Nez Perce war kurz vor dem Boten aus Greenbush in der Missionsstation Molalla Spring eingetroffen. Also ritt Mercer erst zu den Nez Perce und wollte von da aus weiter nach Greenbush. Doch ein für diesen Landstrich ungewohnt heftiger Schneefall hatte das verhindert. Mercer kam nicht nach Greenbush durch, und die meisten Siedler starben.
Als die beiden deutschen Auswanderer von den Leuten aus Greenbush die Wahrheit erfuhren, waren sie natürlich schockiert gewesen. Jacob machte den zu Mördern gewordenen Siedlern Vorwürfe. Es kam zu einem Kampf zwischen dem jungen Zimmermann und dem Treck-Captain John Bradden.
Jacob besiegte Bradden, woraufhin dessen Bruder Frazer auf den Deutschen schoß. Jacob stürzte bei dem Versuch, der Kugel auszuweichen, in einen steilen Canyon. Dort hatten sie ihn zurückgelassen, reglos, vielleicht leblos.
Die verbohrten Indianerhasser zwangen Irene, sie zu begleiten. Irenes Flehen, Jacob zu helfen, war von den Männern und Frauen ignoriert worden. Sie wollten keine Zeit verschwenden, weil sie die Rache der Nez-Perce-Krieger fürchteten.
Und wahrscheinlich wollten sie dem Indianerfreund, wie sie Jacob verächtlich nannten, auch gar nicht helfen.
Der Haß, der in Frazer Braddens Gesicht geschrieben stand, war Ausdruck des Wahns, der die Leute aus Greenbush befallen hatte wie eine Nachwirkung des schlimmen Fiebers.
Der unrasierte Mann, der mit gezücktem Bowiemesser auf Irene hockte, um ihr den Skalp zu nehmen, schien besonders stark von dem Wahn befallen zu sein. Vielleicht war das der Grund, daß er nach dem Kampf zwischen Jacob und John Bradden auf den Deutschen geschossen hatte. Vielleicht konnte er nicht verwinden, daß sein Bruder von einem Indianerfreund zu Boden gestreckt worden war.
Als der Treck sein Nachtlager erreichte, einen kleinen Pinyonwald in einem langgestreckten Tal, hielt Frazer Bradden Irene an, Äste und Zweige zu sammeln, um die Planwagen vor den Blicken möglicher Verfolger zu verbergen.
Und dann verfolgte er sie und fiel über sie her...
*
Braddens unrasiertes Gesicht war dicht über dem von Irene. Sein heftiger, stoßweiser Atem roch faulig und ekelerregend.
Gier war in das von Haß verzerrte Gesicht geschrieben - die Gier nach Blut. Er wollte Irenes Tod offenbar genauso in sich aufsaugen, wie er es jetzt mit ihrer Angst und ihrer Verzweiflung tat.
Das schien der Grund zu sein, weshalb er den Schnitt in ihre Kopfhaut so lange hinauszögerte. Je länger die Frau litt, desto mehr befriedigte es den Mann.
Es war schon ziemlich dunkel in dem Pinyonhain. Die Sonne sank, und die Baumstämme hielten den größten Teil des schwächer werdenden Lichts zurück.
Trotzdem bemerkte Irene den großen Schatten, der plötzlich über ihr Gesicht fiel. Der Schatten eines massigen Mannes, der aus dem Unterholz stürzte. Es war der vollbärtige Ebenezer Owen, um dessen vom Wundfieber befallene Frau sich Irene gekümmert hatte.
Kräftige Fäuste krachten gegen Braddens Kopf und schleuderten ihn zurück, weg von Irene.
Sie atmete erleichtert auf, als die scharfe Klinge nicht mehr vor ihren Augen schwebte.
»Bist du verrückt geworden, Frazer?« brüllte Owen. Breitbeinig und mit geballten Fäusten stand er zwischen Irene und dem Mann, der fast ihren Skalp genommen hätte.
Bradden lag am Boden, aber seine Rechte umklammerte weiterhin den Bügelgriff des großen Messers, das an einen Säbel erinnerte.
»Wieso?« keuchte er. »Was mischt du dich ein, Ebenezer? Das hier geht dich nichts an!«
»Es geht mich nichts an, wenn du eine Frau ermordest?« Owens Stimme überschlug sich vor Fassungslosigkeit.
»Sie ist doch nur die Hure eines Indianerfreundes, kaum besser als eine Nez-Perce-Squaw!« Bradden spuckte verächtlich aus. Sein Speichel war mit Blut gemischt. Owens Fäuste hatten anscheinend gut getroffen.
Owen schüttelte traurig den Kopf und erwiderte: »Wir haben vielleicht einen Fehler gemacht, als wir die Nez Perce überfielen. Je länger ich darüber nachdenke, desto unsinniger erscheint mir, was wir getan haben.«
»Wie kannst du das sagen, Ebenezer? Auch deine Kinder sind am Fieber gestorben!«
»Yeah.« Offenbar war Owen sich seines Standpunkts nicht mehr ganz so sicher. Überlegend schwankte sein Kopf hin und her. »Aber was können die Nez Perce dafür? Sie haben uns das Fieber nicht gebracht.«
»Wer weiß«, brummte Bradden vieldeutig.
Owen zog die buschigen Brauen hoch.
»Was meinst du damit, Frazer?«