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Die Sorge um Irene und Jamie trieb ihn an. Auch wenn er es sich immer wieder einredete, er glaubte doch nicht daran, daß seine Alpträume Zufälle gewesen waren.

Fast meinte er ein unsichtbares Band zu spüren, das zwischen ihm auf der einen Seite und Irene mit ihrem Kind auf der anderen Seite bestand. Das ihn eine Gefahr spüren ließ, die meilenweit entfernt die geliebten Menschen bedrohte.

Er löschte das Feuer, indem er Erdreich auf die Flammen streute. Mit geübten Griffen packte er seine wenigen Sachen zusammen und band sie auf den Appaloosa.

Kaum hatte er das Tier losgemacht und sich auf den Rücken geschwungen, da wieherte es in nie vernommener Lautstärke und stieg mit den Vorderhufen hoch in die Luft.

Der Reiter verlor den Halt und purzelte zu Boden. Jacob fiel ausgerechnet auf die lädierte rechte Schulter, was die Sache besonders schmerzhaft machte.

Benommen richtete er sich auf und hielt mit der Linken die schmerzende Schulter. Er wandte sich dem Appaloosa zu und bellte wütend: »Was soll das, du Ungeheuer? Wir haben uns doch bisher so gut vertragen. Warum willst du mich jetzt unbedingt umbringen?«

Er wollte nach den Zügeln greifen. Aber der graue Hengst wich zurück, schien Angst vor Jacob zu haben. Nein, nicht vor Jacob. Entgeistert sah er den wirklichen Grund für das seltsame Verhalten des Indianerpferds.

Auslöser der Panik, die den Appaloosa befallen hatte, waren die Wesen, die mit vor Blutgier leuchtenden Augen und mit gefletschten Zähnen aus dem Unterholz hervorbrachen.

Mit der Schnelligkeit geübter Jäger kreisten sie den Menschen und das Pferd ein und machten sich bereit, die Beute anzufallen.

*

Es war zuviel für Irene. Die Aufregungen der vergangenen Tage.

Die permanente Angst.

Die Trauer um Jacob.

Und jetzt das Entsetzliche, das Fred Myers und Frazer Bradden mit Jamie anstellten!

Die von Todesangst befallene Mutter wollte ihrem Sohn helfen, ihn vor Braddens Mordgier und seinem Bowiemesser retten. Aber sie sah keinen Weg.

Während sie noch verzweifelt überlegte, gaben ihre Beine nach, als hätte jemand der leidgeprüften Frau einen Schlag in die Kniekehlen versetzt. Sie knickte zusammen und sank auf den Boden.

»Nicht.«, flehte sie mit schwacher Stimme. »Bitte. nicht meinen Sohn!« Wie gebannt hingen ihre Augen an dem schreienden Kind und an dem Messer. Eine Handbewegung genügte, um Jamies Leben auszulöschen.

Irene verstand das alles nicht. Was trieb die beiden Männer zu dieser schrecklichen Tat? Der noch nicht ein Jahr alte Jamie hatte ihnen doch wirklich nichts getan! War es pure Mordlust?

Nein, da mußte noch etwas anderes sein. Wie hatte Frazer Bradden eben doch gesagt: »Wir brauchen den Kleinen, um dir zu zeigen, daß wir keinen Spaß verstehen.«

Aber sie kam nicht darauf, was er gemeint hatte, was er von ihr und Jamie wollte.

»Bitte!« flehte sie und sah zu dem Wagen der Owens hinüber.

Sie hoffte, daß Ebenezer Owen ihr noch einmal beistand, wie schon vor drei Tagen. Aber sie konnte den massigen Mann nicht entdecken. Vielleicht lag der Verwundete noch schlafend bei seiner fiebrigen Frau unter der Plane des Wagens.

Aber jetzt sah sie die anderen Männer und Frauen des Trecks, die sich um die kleine Gruppe bei dem Planwagen scharten, mit dem Jacob und Irene ursprünglich zur Pazifikküste fahren wollten.

Der Treck-Captain John Bradden und sein Sohn Lewis. Die letzten Überlebenden von Fred Myers' Kindern, die beiden Söhne Sam und Pete. Und die beiden Frauen, John Braddens Frau Eliza und Fred Myers' Frau Anne.

Doch niemand traf Anstalten, Irene und Jamie beizustehen.

Nicht der Treck-Captain, dessen Wort hier Gesetz war. Und auch nicht die Frauen, die am ehesten fühlen mußten, was in Irene vorging. Sie waren doch auch Mütter! Vergebens suchte Irene in den Augen der beiden nach Mitleid oder wenigstens einem Anflug von Mitgefühl.

Einmal mehr dachte die junge Deutsche, daß der schreckliche Winter alle Menschen in Greenbush um den Verstand gebracht haben mußte. Sie waren fast keine Menschen mehr, jedenfalls nicht ihrem Verhalten nach.

Und mit jedem Tag wurden sie schlimmer.

Tränen füllten Irenes Augen, als das Schreckliche in ihr immer mehr zu Gewißheit heranreifte.

Ja, es sah tatsächlich so aus, als hätten die Männer und Frauen sich hier versammelt, um der Hinrichtung des kleinen Kindes beizuwohnen!

*

Ein halbes Dutzend Feinde umkreiste Jacob und den Appaloosa, wenn der deutsche Auswanderer sich nicht verzählt hatte.

Denn sie waren flink und blieben immer in Bewegung. Sie zogen ihre Kreise um das abgebrochene Lager, und jeder Kreis war kleiner als der vorhergehende.

Als wollten sie prüfen, wie weit sie gehen konnten.

Oder ob sie überhaupt mit Gegenwehr rechnen mußten.

»Entschuldigung, Grauer«, murmelte Jacob, als er sein Messer zog. »Ich war dumm. Ich hätte dir mehr vertrauen sollen.«

Die Erkenntnis kam zu spät. Der Mann und das Pferd saßen in der Falle. Beide drehten sich im Kreis, um die Bewegungen der Feinde zu verfolgen und sich nicht von einem plötzlichen Angriff überraschen zu lassen.

Die Angreifer boten einen schrecklichen Anblick. Struppiges Fell, grau, manchmal mit rötlichgelbem Einschlag. Kräftige Körper, teilweise nicht kürzer als der hochgewachsene Deutsche. Langgestreckte Köpfe mit sehr kurzen Ohren und spitzen Schnauzen, aus denen lange Fangzähne ragten. Zähne, die große Stücke Fleisch aus den Opfern reißen konnten. Und Augen, deren katzenartige Pupillen das Licht der aufgehenden Sonne auffingen und reflektierten. Ein böser Schimmer lag in diesen Augen, die ihre Beute keine Sekunde außer acht ließen.

Aus den Kehlen der Bestien drang ein grollendes Knurren, das allein gereicht hätte, einem Menschen Todesangst einzujagen.

Auch Jacob hatte Angst. Aber er ließ sich von ihr nicht unterkriegen.

Wie immer in gefährlichen Situationen war sein Geist mit der Suche nach einem Ausweg beschäftigt. Die beste Art, die eigene Angst zu bekämpfen. Und die sinnvollste.

Nur - diesmal schien es keinen Ausweg zu geben! Die Falle war längst zugeschnappt und Hilfe weder in Sicht noch zu erwarten.

Wölfe waren eigentlich Nachttiere, überlegte Jacob. Das Rudel mußte großen Hunger haben, daß es auch am Tag auf Beute ging.

Der Appaloosa hatte sie gewittert, als sie sich dem Lager näherten. Sie mußten die ganze Zeit, während der Auswanderer frühstückte, in der Nähe gewesen sein. Vermutlich hatte das Feuer sie zurückgehalten.

Und als Jacob es löschte, griffen sie an. Nein, es gab keinen Ausweg. Er konnte nur kämpfen und sein Leben so teuer wie möglich verkaufen. Schon ein Wolf war ein gefährlicher Gegner für einen Mann. Aber sechs?

Noch während Jacob der erschreckende Gedanke an die erdrückende Übermacht des Gegners durch den Kopf schoß, sprangen die Raubtiere ihre beiden Opfer an.

Ein großer dunkler Körper füllte Jacobs Gesichtsfeld aus. Dicht vor sich sah er die längliche Schnauze, weit aufgerissen, und die scharfen Zähne in den zum Zupacken bereiten Kiefern.

Er wehrte den dichtbehaarten Körper mit der Linken ab und stieß gleichzeitig die Rechte mit dem Messer vor. Die Klinge fraß sich tief in den Hals der Bestie.

Der Wolf fiel vor dem Menschen auf den Boden und sackte nach einem letzten Aufjaulen kraftlos zusammen. Rasch bildete sich eine Blutlache um Jacobs Stiefel.

Das sah der Auswanderer noch.

Und auch noch, wie der Appaloosa wild hin und her sprang. Seine Hufe wirbelten durch die Luft und versuchten die Raubtiere zu treffen. Ihr wütendes Knurren vermischte sich mit dem angsterfüllten Wiehern des Grauen.

Dann wurde Jacob durch einen heftigen Aufprall zu Boden gerissen. Er fiel auf den Rücken. Für ein, zwei Sekunden bekam er keine Luft.

Ein Wolf stand mit den Vorderläufen auf seiner Brust und schnappte nach seinem Hals. Jacob riß in einer instinktiven Abwehrhandlung den linken Arm hoch.