Sobald die Arbeiter aber den Treck entdeckten, ließen sie Hacken, Spaten und Schaufeln liegen und rannten zu den Wagen. Der Winter war eine einsame Zeit gewesen. Die Siedler versprachen Neuigkeiten und Abwechslung.
Fast alle Arbeiter hatten dunkle Haut und unverkennbar indianische Züge, auch wenn die meisten von ihnen die Haare kurz und die Kleidung der Weißen trugen.
»Schauen Sie sich nur die bekehrten Wilden an«, raunte der sonst eher schweigsame Lewis Bradden verächtlich. »Sie tragen das Kreuz Christi um den Hals, aber die meisten von ihnen haben darunter die indianische Medizin versteckt!«
»Woher wissen Sie das?« erkundigte sich Irene.
»Das ist doch klar!« erwiderte der Sohn des Treck-Captains und spie aus.
»Sind es Nez Perce?« fragte Irene, die Verachtung in Braddens Worten absichtlich überhörend.
»Yeah, zumindest die meisten. Vielleicht sind auch ein paar Spokane, Coeur d'Alene, Cayuse und Walla Walla darunter. Diese Betbrüder hängen doch jedem das Kreuz um, den sie packen können.«
»Mögen Sie die Missionare nicht?«
»Nein. Sie behandeln die Roten wie Lämmer. Dabei sind es wilde Wölfe, die sich nur bei den Weißen etwas Winterspeck anfuttern. Wenn sie die Nase voll davon haben, bringen sie die angeblichen Brüder mit der hellen Haut um und ziehen nach Art ihrer Vorfahren wieder mordend und plündernd durchs Land.«
Am liebsten hätte Irene ihm gesagt, daß die Leute aus Greenbush es waren, die mordend und plündernd durchs Land zogen. Aber sie wollte ihn nicht unnötig reizen.
Also fragte sie nur: »Wie viele Indianer leben hier?«
»An die vierzig Männer, schätze ich. Dazu noch Squaws und Kinder. Alles in allem wohl an die zweihundert Rothäute.«
»Und wie viele Weiße?«
»Nur drei, wenn sich in der Zwischenzeit nichts verändert hat. Simon Mercer, seine Frau Narcissa und der alte Walt Hickly. Er ist so eine Art Mädchen für alles.«
Je näher die Wagen der Missionsstation kamen, desto länger wurde der Zug der sie begleitenden Indianer. Jetzt kamen auch Frauen und Kinder aus der Hüttensiedlung angelaufen, in der die bekehrten Roten lebten.
Die Indianer riefen den Neuankömmlingen Fragen zu, in der Sprache der Weißen. Sie fragten nach dem Leben jenseits der Cascade Mountains, nach Bekannten in Greenbush und bei den frei lebenden Nez Perce.
Auch wenn sich die Leute aus Greenbush um Freundlichkeit bemühten, fielen ihre Antworten eher einsilbig aus.
Irene fragte sich, warum die Weißen den Roten gegenüber so freundlich taten. Weil dies hier bekehrte Indianer waren, gegen die man keinen Groll hegte? Oder weil eine bestimmte Absicht dahintersteckte?
Aber welche?
Zwischen der Indianersiedlung und den anderen Gebäuden der Mission lagen ein paar hundert Yards freies grasbewachsenes Gelände. Hier ließ John Bradden den Treck anhalten und ritt dann zu Irenes Wagen.
»Da kommen die Mercers«, sagte er und wies auf die Gebäude zur Rechten, zu denen eine einfache, aber große Kirche, mehrere Häuser und Ställe, eine Schmiede und eine durch die Wasser des Molalla River betriebene Mühle gehörten.
Von dort liefen den Wagen drei Weiße entgegen, zwei Männer und eine Frau. Das mußten die Mercers und Walt Hickly sein.
»Du weißt, wie du dich zu verhalten hast, Dutch-Lady!« zischte der Treck-Captain.
Es war weniger eine Frage als eine Erinnerung an die Anweisungen, die John Bradden der Deutschen gegeben hatte. Trotzdem nickte Irene.
»Ja, ich weiß Bescheid. Und ich werde mich danach richten.«
FürJamie, dachte sie. Nur für ihn!
»Schön. Denk immer an deinen kleinen Sohn, dann wird es dir leichtfallen.« John Bradden blickte seinen eigenen Sohn an.
»Paß gut auf die Dutch-Lady auf, Lewis!«
Der Treck-Captain riß seinen Rappen herum und ritt den Weißen von der Mission entgegen. Die hatten den Wagenzug fast erreicht und begrüßten Bradden freundlich.
»Was ist los, Bruder John?« fragte der Mann, den Irene für Simon Mercer hielt. »Warum kommst du uns gleich mit vier Wagen besuchen? So viel Tauschmaterial kannst du so kurz nach dem Winter doch gar nicht haben.«
Er war ein großer knochiger Mann, irgendwo zwischen Fünfzig und Sechzig. Das eisgraue Haar fiel ihm in wirren Locken in den Nacken. Lange und ebenfalls graue Koteletten wuchsen bis zum Kinn hinunter. Das sonst bartlose Gesicht drückte eine gutmütige Strenge aus. Die Augen konnte Irene nicht erkennen, weil die dicken Gläser einer großen Brille das Licht der tiefstehenden Sonne reflektierten. Er trug eine schwarze Hose und eine dazu passende Weste über einem weißen Hemd, dessen Kragen von einer schwarze Schleife geziert wurde.
»Wir wollen uns hier ausruhen, Dr. Mercer«, erwiderte der Treck-Captain und beugte sich im Sattel nach vorn, um dem Missionar ins Gesicht zu blicken. »Wir sind unterwegs zur Küste.«
»Zur Küste?« echote Mercer mit einem fragenden Gesicht, das Verständnislosigkeit ausdrückte. »Weshalb?«
»Wir wollen nach Kalifornien. Dort ist in letzter Zeit eine Menge Gold gefunden worden. Warum sollen nur die anderen Glück haben?«
Das Gesicht des Missionars verdüsterte sich.
»Bruder John, es ist nicht Gottes Wille, daß der Mensch dem Gold nachjagt. Warum bleibt ihr nicht bei den anderen in Greenbush und bestellt euer Land, wie es dem Herrn gefällt?«
John Bradden beugte sich noch weiter nach vorn, als wolle er sein Gesicht in das des Missionars bohren. Ganz langsam, jede Silbe betonend, sagte er: »Es gibt keine anderen mehr in
Greenbush, Dr. Mercer!«
»Ich verstehe dich nicht, Bruder John.« Der Missionar schüttelte den Kopf. »Wo sind sie denn? Etwa auch nach Kalifornien?«
»Nein«, erwiderte der Mann mit dem Narbengesicht gedehnt und zeigte mit der Hand zur Erde. »Sie sind dort.«
Die verglasten Augen des Missionars waren eine ganze Weile auf den Treck-Captain gerichtet. Allmählich zeichnete sich Verstehen auf Mercers Gesicht ab. Und mit dem Verstehen wuchs sein Erschrecken.
»War es. das Fieber?« fragte er fast tonlos.
Braddens einzige Antwort bestand in einem Nicken. Aber in seinem harten Gesicht mit den zusammengekniffenen Lippen und den brennenden Augen konnte man deutlich den unausgesprochenen Vorwurf lesen.
Die Frau des Missionars trat einen halben Schritt vor und bekreuzigte sich.
»Nur der Herr weiß, warum dies geschehen mußte«, sagte sie leise. »Seine Wege sind unerforschlich.«
Narcissa Mercer war etwa zehn Jahre jünger als ihr Mann und früher bestimmt eine sehr schöne Frau gewesen. Aber das Leben in der Wildnis nach den strengen Regeln, die dem Allmächtigen von den Menschen zugeschrieben wurden, hatte harte Züge in ihr längliches Gesicht geprägt. Ihr bräunliches Haar, das zu einem kunstvollen Knoten aufgetürmt war, ging ins Graue über; die Frisur unterstrich noch die gewisse Strenge, die aus ihren herben Zügen sprach. Sie trug einen dunklen Wollrock, eine weiße Leinenbluse und ein dunkles Wolltuch um die Schultern.
Ihr Mann ging zu dem Reiter und legte in mitfühlender Geste eine Hand auf seinen Arm.
»Das tut mir so leid, Bruder John! Ich wollte zu euch kommen, um euch zu helfen. Aber der Schnee machte ein Durchkommen unmöglich. Jetzt, wo er geschmolzen ist, wollte ich das Versäumte nachholen. In den nächsten Tagen schon wollte ich nach Greenbush aufbrechen.«
»Zu spät«, seufzte der Treck-Captain. »Greenbush ist nur noch eine Geisterstadt.«
»Aber ihr könntet dort weitermachen«, wandte der Missionar ein. »Der Allgütige hat euch immer eine gute Ernte geschenkt. Andere Siedler würden sich dort niederlassen. Greenbush würde zu neuem Leben erblühen!«
»Nein«, erwiderte Bradden matt und schüttelte langsam den Kopf.
»Du und deine Leute, Bruder John, ihr seid Farmer«, beschwor Mercer den Treck-Captain. »Eure Bestimmung ist es, das Land zu bestellen. Nicht, es aufzuwühlen, um nach glänzenden Körnern zu suchen. Ich verstehe, daß ihr nicht in Greenbush bleiben wollt. Zu viele schreckliche Erinnerungen hängen an diesem Ort. Aber ihr könntet euch woanders niederlassen, zum Beispiel hier!« Der Missionar machte eine weit ausholende Armbewegung, die das ganze Tal zu umfassen schien. »Wir können in unserer Siedlung noch kräftige Hände gebrauchen. Und gottesfürchtige Menschen, die den Indianern ein Vorbild sind. Aber auch sonst ist hier fruchtbares Land im Überfluß. Das ganze Molalla Valley steht euch zur Verfügung!«