Genug Zeit für die geschlagenen Wölfe, um mit Verstärkung zurückzukehren. Schon einmal hatten die behaarten Bestien im Morgengrauen angegriffen.
Jacob drehte sich ganz langsam um sich selbst. Seine Blicke tasteten sorgfältig das Unterholz ab.
Er wußte genau, wonach er suchte: nach katzenartigen Pupillen, die den kleinsten Lichtschimmer auffingen und in ein böses, mordlüsternes Feuer verwandelten. Leuchtende Augen, die ihn voller Gier aus dem Unterholz anstarrten und nur auf den richtigen Moment warteten, um ihn anzufallen.
Der Auswanderer hörte wieder ein Geräusch, ein leises Rascheln. In seinem Rücken!
Er wirbelte herum und hob die Hand mit dem Messer.
Der erste Sonnenschimmer fiel auf das braune Fell eines Hasen, der an einem Grasbüschel mummelte, während er den Menschen beobachtete.
»Keine Angst, Meister Lampe, ich tu dir nichts«, grinste Jacob und steckte das Messer zurück in die Scheide. »Du bist mir tausendmal lieber als jeder Wolf. Außerdem habe ich keine Lust auf Hasenbraten.«
Der junge Zimmermann fühlte sich nun völlig sicher. Wären Wölfe in der Gegend herumgestrichen, hätte der Hase bestimmt nicht so friedlich gefrühstückt. Er wäre nervös gewesen wie am Morgen zuvor der Appaloosa und hätte wahrscheinlich sofort sein Panier ergriffen.
Diesmal zündete Jacob kein Feuer an. Er wollte nicht noch mehr Zeit verlieren. Außerdem war ihm zwar ein wenig kalt, aber sonst fühlte er sich einigermaßen ausgeruht. Der Schlaf hatte ihn Zeit gekostet, aber ihm auch gutgetan. Vielleicht war es eine sinnvolle Investition.
Er aß einen von den indianischen Fleischbällchen, spülte ihn mit einem Schluck Wasser hinunter und packte dann seine Sachen zu einem Bündel zusammen, das er auf Schulter und Rücken schnürte.
Fast wie in alten Zeiten, dachte Jacob. Wie damals, als der junge Handwerksgeselle drei Jahre lang durch Deutschland gewandert war, um seine Fähigkeiten als Zimmermann zu vervollkommnen. Damals hatte er weder Wagen noch Pferd gehabt. Schusters Rappen waren seine einzigen Fortbewegungsmittel gewesen.
Damals?
Mit Erschrecken wurde ihm bewußt, daß es nicht einmal ein Jahr her war, als er von der Walz in seinen Heimatort Elbstedt zurückkehrte. Das Herz voller Hoffnungen, die brutal zerschlagen wurden.
Ihm kam es vor, als läge eine Ewigkeit dazwischen. Als wäre es das Leben eines ganz anderen gewesen.
Jacob schüttelte die trüben Gedanken von sich ab und verließ den Pappelwald.
Nur kurz verfolgten ihn die neugierigen Blicke des Hasen, dann wandte das Tier sich wieder seinem Frühstück zu.
Mit weit ausgreifenden Schritten tauchte der Mann aus Deutschland in die unbekannte Bergwelt des fremden großen Landes Amerika ein.
*
Molalla Spring, am Nachmittag dieses Tages
Der Tag schleppte sich mit quälender Langsamkeit dahin. Genauso wie die Nacht, in der Irene kein Auge zugetan hatte.
Natürlich war Jamie der Grund für ihre Schlaflosigkeit gewesen. Er lag bei Eliza Bradden und weinte sich die Seele aus dem Leib, weil er sich nach seiner Mutter sehnte.
Aber obwohl die Frauen im selben Raum schliefen, ließ die eifersüchtige Frau des Treck-Captains nicht zu, daß Jamie die Nacht bei Irene verbrachte. Mehrmals machte Irene diesen Vorschlag, und jedesmal erhielt sie eine scharfe Abfuhr.
Statt dessen bemühte sich Eliza Bradden vergeblich, das kleine Kind zu beruhigen. Es weinte fast die ganze Nacht hindurch und schlief erst gegen Morgen vor Erschöpfung ein.
Während Irene wach lag und sich unruhig auf der zerschlissenen alten Matratze hin und her wälzte, deren Moosfüllung aus vielen kleinen Löchern nach draußen drängte, ergriff ein entsetzlicher Gedanken immer stärker von ihr Besitz: Was war, wenn Eliza Bradden das Kind gar nicht mehr hergab?
Die junge Mutter konnte an nichts anderes mehr denken. Es erschien ihr immer wahrscheinlicher, daß die Frau des Treck-Captains Jamie als den ihr zustehenden Ersatz für den Verlust ihrer eigenen Kinder betrachtete.
Irene beruhigte sich erst ein bißchen, als sie Jamie am Morgen stillen durfte. Wieder ließen Eliza Braddens wachsame, neidvolle Blicke Mutter und Kind keine Sekunde aus den Augen.
Narcissa Mercer brachte den beiden Frauen das Frühstück und sagte: »Der Herr sieht es bestimmt mit Wohlgefallen, wie du dich um die junge Mutter und um das arme kleine Würmchen kümmerst, Schwester Eliza. Dein Mann hat mir erzählt, wie du dich für die beiden aufopferst. Wenn ich dich ablösen soll, brauchst du es nur zu sagen.«
»Danke, Mrs. Mercer«, sagte Eliza Bradden und setzte ein tapferes Lächeln auf. »Es geht schon. Der Herr gibt mir Kraft.«
»Ja, die gibt er uns allen«, meinte die Frau des Missionars mit einem glückseligen Blick zu der wurmstichigen Holzdecke hinauf. »Auf ihn können wir vertrauen.«
Sie verließ das Gästehaus, ohne die Tränen in Irenes Augen zu bemerken.
Als die Sonne höher stieg und es im Haus stickig zu werden begann, ging Eliza Bradden mit Jamie nach draußen und setzte sich auf eine grobe Holzbank unter dem Vordach des Gästehauses.
Irene folgte ihr und setzte sich einfach daneben. So konnte sie wenigstens in der Nähe ihres Kindes sein.
Schweigend saßen die beiden Frauen nebeneinander. Mrs. Bradden versuchte, Jamie zu bemuttern. Aber der ließ das nur widerwillig geschehen und sah unverwandt zu seiner richtigen Mutter herüber. In seinen winzigen Augen standen Verwirrung und Furcht geschrieben.
Auch die Mittagssuppe nahmen Irene und Mrs. Bradden im Gästehaus ein. Dann setzten sie sich wieder unter das Vordach und beobachteten das geschäftige Treiben.
Die meisten Indianer arbeiteten draußen auf den Feldern. Einige waren in der Schmiede beschäftigt und halfen den Männern aus Greenbush, Hufe und Wagenräder neu zu beschlagen. Auch die Achsen und die Diagonalstreben der Planwagen wurden überprüft und nötigenfalls durch neue Eisen ersetzt, damit die Prärieschoner den Weg zum Pazifik ohne Bruch überstanden.
Am Nachmittag kam ein Mann vom Missionshaus herüber, dessen rechter Arm in einer großen Schlinge lag. Es war Ebenezer Owen. Er machte ein zufriedenes Gesicht.
»Wie geht es Ihnen und Ihrer Frau, Mr. Owen?« fragte Irene.
Sie war froh, den bärtigen Mann zu sehen. Er war von den Männern aus Greenbush derjenige, dem sie noch am meisten vertraute. Sie würde ihm nicht vergessen, daß er sein Leben für sie eingesetzt hatte, als Frazer Bradden sie bedrohte.
»Danke, besser«, lächelte der massige, breitschultrige Mann und blieb unter dem Vordach stehen. »Wie Sie sehen, Miß Sommer, laufe ich schon wieder herum.«
»Und Carol?«
»Sie muß noch eine ganze Weile liegen. Aber Dr. Mercer hat auch ihr geholfen. Er hat das Wundfieber eingedämmt.« Owen stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Und er hat sogar ihren Arm gerettet!«
»Er muß wirklich ein guter Arzt sein«, sagte die junge Deutsche.
»O ja, das ist er!« bestätigte Owen.
»Ja, er hätte uns allen helfen können, wenn er rechtzeitig nach Greenbush gekommen wäre«, bemerkte Eliza Bradden bitter. »Aber er hat es ja vorgezogen, zuerst diesen roten Heiden beizustehen!«
Owen blickte sie zweifelnd an und meinte: »Vielleicht sollten wir uns bemühen, Dr. Mercer zu verstehen, Eliza!« »Ihn verstehen?« rief sie so laut, daß Jamie zu schreien begann. »Da gibt es nichts zu verstehen! Wie kann man Rothäute den Menschen der eigenen Hautfarbe vorziehen? Geh doch zurück nach Greenbush und sieh dir die vielen Gräber an, Ebenezer. Und dann sag mir, ob du das verstehen kannst!«
Vergeblich suchte der Mann nach einer passenden Antwort.
Ein kleiner, von vier Maultieren gezogener Planwagen, der von den Bergen kam und auf die Siedlung zurollte, befreite ihn von weiterem Grübeln.
Irene kam der Wagen gleich bekannt vor. Sie kniff die Augen zusammen und spähte zu ihm hinüber, bis sie die beiden Menschen auf dem Bock zu erkennen glaubte.