»Ich brauche Instrumente, Medikamente und Verbandszeug«, sagte er und wollte die Kirche verlassen.
Einer der Krieger drückte die Eisenspitze seines Speers gegen Mercers Brust und sagte: »Nein!«
»Aber die Männer haben ein Recht auf Hilfe!« beharrte der Missionar.
»Sie sind Mörder«, erwiderte der Krieger mit dem Speer im gebrochenen Englisch.
»Auch Mördern muß man helfen!«
Der Nez Perce schüttelte nur den Kopf.
Hilflos ballte Mercer die Hände zu Fäusten.
»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Martin.
»So genau weiß ich das auch nicht«, antwortete der Missionar.
»Aber ich«, sagte Irene zur Überraschung Martins, Urillas und der Mercers.
Sie erzählte ihre Geschichte. Sie hatte viel Zeit dazu. Die Indianer kamen erst am nächsten Morgen, um ihre Entscheidung zu verkünden.
*
Als die Sonne aufging, war Jacob schon wieder unterwegs. Das abschüssige Gelände sagte ihm, daß er sich bereits in den westlichen Ausläufern der Cascade Mountains befand. Molalla Spring konnte nicht mehr weit entfernt sein. Das spornte den jungen Auswanderer an.
Und als die Sonne über den Bergen in seinem Rücken erstrahlte, schien sie auf das fruchtbare Molalla Valley, das sich vor Jacob ausbreitete wie eine paradiesische Verheißung. Er ließ sich von dem erhebenden Anblick nicht täuschen. Er spürte, daß etwas nicht in Ordnung war mit diesem scheinbaren Paradies.
Vielleicht waren es nur die wirren Träume der Nacht, die ihn verunsicherten.
Träume von einem weinenden Jamie und von Irene, der die Todesangst ins Gesicht geschrieben stand.
Aber vielleicht waren es mehr als Träume.
Vielleicht Vorahnungen.
Oder schlimme Nachrichten von Dingen, die sich bereits ereignet hatten?
Er kletterte durch steile Hügel nach unten, als er hinter sich Hufschlag vernahm. Sofort ging er hinter einem kegelförmigen Felsen in Deckung und zog sein Messer.
Der Hufschlag wurde lauter. Ein Pferd kam in sein Blickfeld. Ein Appaloosa. Aber der Indianersattel war leer.
»Wenn Sandhaar ein Feind von Riding Bear wäre, wäre der weiße Mann jetzt tot!«
Jacob wirbelte herum.
Über ihm kauerte Riding Bear zwischen den Felsen und senkte gerade Pfeil und Bogen.
»Wie.«, fragte Jacob verwirrt.
»Eine alte List meines Volkes«, grinste Riding Bear. »Laß den Gegner auf dein Pferd warten, dann wartet er nicht auf dich.«
Er stieß einen schrillen Pfiff aus, und der braunweiße Appaloosa trottete heran.
»Ich bin überrascht, dich zu sehen, Riding Bear. Daß du schon wieder reiten kannst!«
»Riding Bear sagte doch, die Kräuter sind gut«, antwortete der Nez Perce und kletterte aus den Felsen herab. »Außerdem hatte ich es eilig, als ich Spuren anderer Kaminu fand, die nach Westen ritten. Dann fand ich auch noch deine Spuren, das tote Pferd und die erlegten Wölfe. Sandhaar ist ein großer Krieger!«
»Nein«, widersprach Jacob kopfschüttelnd. »Ich lasse mich nur nicht gern von wilden Bestien zerfleischen.«
»Das ist dasselbe«, erklärte Riding Bear und ging zu seinem Pferd. »Sandhaar mag hinter mir aufsteigen. Wir müssen schnell zur Mission. Riding Bears Brüder sind schon dort.«
Wie der Nez Perce das sagte, klang es sehr unheilvoll.
Als beide Männer aufgesessen waren, trieb Riding Bear den Appaloosa zu einem schnellen Galopp an.
*
»Alle Weißen werden sterben«, verkündete der hünenhafte Indianer, der fast den gesamten Kircheneingang ausfüllte. »So hat es die Mehrzahl der Kaminu beschlossen.«
Dann wurden die gefangenen Weißen hinausgeführt in den noch jungen Morgen - ihren letzten.
Auf dem freien Platz zwischen den Häusern, der Kirche und der Hüttensiedlung bildeten die Indianer einen großen Kreis, um der Vollstreckung des Todesurteils beizuwohnen.
Die Verurteilten mußten sich in einer Reihe aufstellen.
Der Hüne trat vor sie, einen langen Speer in der Rechten, und verkündete: »Dies ist der Speer der Vergeltung. Die Hand von Little Fox wird ihn führen. Das wird die Schuld tilgen, die auf den Weißen liegt.«
Martin kicherte.
Urilla sah ihn verständnislos an und fragte: »Findest du das wirklich lustig?«
»Das mit dem Speer nicht«, sagte Martin. »Aber den Namen dieses Riesen. Little Fox ist doch wohl ein bißchen tief gestapelt!«
Plötzlich entstand Unruhe im Kreis der Indianer. Hufschlag drang an die Ohren der Menschen und wurde schnell lauter.
»Wer kommt da?« fragte Irene.
Martin reckte seinen Kopf hoch. Aber obwohl er sehr groß war, konnte er nicht über die Köpfe der Roten hinwegblicken.
Doch bald bildete sich eine Gasse zwischen den Nez Perce. Die Menschen in der Mitte des Kreises sahen das Pferd und seine beiden Reiter.
»Der zweite Mann ist Jacob!« brüllte Martin. »Es ist Jacob! Und ich dachte, er wäre tot!«
»Das dachte ich auch«, flüsterte Irene völlig entgeistert.
Ein Glücksgefühl durchströmte sie, daß der Mann, den sie insgeheim liebte, noch lebte. Aber dann sagte sie sich, daß das wenig an ihrer Lage änderte.
Die Reiter stiegen ab.
*
»Der Große ist Little Fox«, bemerkte Riding Bear zu Jacob, als sie vom Rücken des Appaloosas rutschten. »Einer unserer besten Krieger.«
Zwischen Riding Bear und Little Fox entspann sich ein heftiger Disput in der Sprache der Nez Perce. Wenn einer der beiden etwas gesagt hatte, erntete er Zustimmung oder Ablehnung von den anderen Indianern.
So ging das eine ganze Weile, bis Little Fox mit ausgebreiteten Armen für Schweigen sorgte und laut in der Sprache der Weißen sagte: »Little Fox glaubt Riding Bear, daß der Weiße namens Sandhaar sein Leben gerettet hat. Little Fox glaubt Riding Bear auch, daß nicht alle Weißen schuld sind an dem Tod so vieler Kaminu. Aber die Kaminu haben einen Schwur getan und ein Urteil gefällt. Blut muß fließen, das ist beschlossen. Die Weißen, die nicht zu den Mördern gehören, sollen frei sein - wenn Sandhaar Little Fox im Kampf besiegt!«
»Tut mir leid, Sandhaar«, sagte Riding Bear im entschuldigenden Tonfall. »Riding Bear hätte das dem Weißen gern erspart. Aber mehr ließ sich nicht machen.«
»Dann muß ich kämpfen«, erwiderte Jacob schlicht.
»Ja, das mußt du«, nickte Riding Bear. »Aber sei vorsichtig. Little Fox trägt seinen Namen mit vollem Recht. Er mag nicht aussehen wie ein Fuchs, aber er ist so listig und gewandt!«
Little Fox rammte die Speerspitze tief in den Boden und verkündete die Regeln des Kampfes:
»Der Speer der Vergeltung ist die einzige Waffe, die in dem Zweikampf erlaubt ist. Jeder von uns steht zehn Schritte vom Speer entfernt. Erst wenn Riding Bear den Kriegsruf der Nez Perce ausstößt, dürfen wir uns bewegen und versuchen, den Speer zu erreichen. Der Kampf ist erst beendet, wenn einer von uns sein Blut vergossen hat.«
Die Nez Perce bekundeten ihre Zustimmung durch lautes Geschrei.
»Das klingt doch sehr gerecht«, bemerkte Jacob zu Riding Bear.
»Sandhaar mag nicht vorschnell urteilen. Noch hat er nicht gegen Little Fox gekämpft.«
Der riesige Indianer erhob wieder seine Stimme: »Riding Bear soll den Abstand festlegen!«
Der Angesprochene ging zu dem Speer und machte zehn Schritte nach Norden. Dort zog er mit dem Messer eine Rille in den Boden. Dann ging er zum Speer zurück, von dort aus zehn Schritte nach Süden, und zog eine weitere Rille.
Jacob und Little Fox legten ihre Waffen ab und gingen dann zu den Markierungen, der Weiße nach Norden und der Rote nach Süden.
Dabei kreuzte Jacob die Blicke seiner Freunde.
Er war sehr erleichtert, Irene und Jamie wohlbehalten wiederzufinden. Und er war sehr überrascht, daß Martin und Urilla in Molalla Spring waren.