Aber er hatte keine Zeit, Fragen zu stellen. Little Fox stand schon kampfbereit hinter seiner Linie.
Auch Jacob erreichte seinen Ausgangspunkt und rief laut, daß er bereit sei.
Während er auf Riding Bears Signal wartete, musterte er eingehend seinen Gegner. Zu seinem Leidwesen mußte er feststellen, daß der gewaltige Körper des Nez Perce aus Muskelbergen bestand, nicht aus Fett.
Sehr groß, sehr stark und - wenn Riding Bear recht hatte -auch sehr verschlagen, das war der Eindruck, den Jacob von Little Fox gewann. Nicht gerade eine erhebende Aussicht für den bevorstehenden Kampf.
Ein gellender, ohrenbetäubender Schrei rollte in Wellen über die Menschen hinweg, so gewaltig, als wolle er das ganze Molalla Valley überfluten.
Keiner der beiden Kämpfer stürmte los.
Ganz langsam ging Little Fox auf den Speer zu, und Jacob tat es ihm nach.
Dabei beobachtete er den Indianer genau. Er hatte das Gefühl, daß dieser etwas plante. Jacob wollte herausfinden, was das war.
Little Fox dagegen schien an den Aktionen seines Gegners nicht sonderlich interessiert. Sein Blick glitt immer wieder über das Gelände, als sei ihm alles mögliche wichtig, nur nicht Jacob und der Speer.
Als jeder der beiden fünf Schritte zurückgelegt hatte, bückte sich der Indianer mit einer blitzartigen Bewegung.
Jacob spurtete los.
Er wußte zwar noch nicht, was der Nez Perce vorhatte, aber es war klar, daß er etwas im Schilde führte. Und Jacob durfte nicht länger zögern, wenn er sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen wollte.
Der Auswanderer streckte seine Hand schon nach dem hölzernen Speerschaft aus, als ihn ein gewaltiger Schlag an die Stirn zu Boden warf.
Er schüttelte die Benommenheit ab und sah neben sich etwas im Gras liegen.
Ein großer Stein.
Blut klebte an ihm.
Es tropfte von seiner aufgerissenen Stirn.
Das also hatte Little Fox aufgehoben, als er sich bückte. Er mußte den Stein von vornherein im Auge gehabt haben. Deshalb hatte er so zielstrebig die Startlinie im Süden aufgesucht.
Dabei waren andere Waffen als der Speer verboten. Aber niemand traf Anstalten, den Kampf zu unterbrechen. Also zählte ein Stein, den man zufällig fand, nicht zu den verbotenen Waffen. Das hatte Jacob nicht gewußt.
All diese Gedanken schossen dem jungen Deutschen innerhalb weniger Sekunden durch den schmerzenden Kopf. Doch als er sich endlich aufraffte, schien es schon zu spät. Gerade zogen die riesigen Pranken des Nez Perce den Speer der Vergeltung aus der Erde.
»Was du kannst, kann ich auch!« stieß der Auswanderer wütend hervor. Gleichzeitig griff er nach dem Stein und schleuderte ihn nach Little Fox, der mit einem schnellen Sprung zur Seite auswich.
Aber immerhin hatte Jacob Zeit genug, um wieder auf die Beine zu kommen.
Allerdings hielt der Indianer den Speer in Händen. Die Spitze zeigte drohend auf Jacob.
Der Deutsche stand einfach da und wartete ab. Der andere hatte den Speer, sollte er doch angreifen!
Little Fox zog die Mundwinkel hoch und fragte: »Der weiße Mann hat Angst?«
»Nein«, sagte Jacob bedächtig. »Ich schlafe nur gleich ein, weil Little Fox sich so langsam bewegt wie ein altes Weib.«
Die eben noch hochgezogenen Mundwinkel des Roten zeigten von einer Sekunde zur anderen nach unten, und er schrie: »Gleich wird das Bleichgesicht sehen, wer von uns langsam ist!«
Und Little Fox stürmte vor, machte kurz vor dem Gegner einen Schritt nach rechts und wollte die Speerspitze in seine Seite stoßen.
Durch Riding Bear und die Sache mit dem Stein vorgewarnt, hatte Jacob mit solch einem Manöver gerechnet. Er konnte dem Stoß ausweichen, wenn auch nur knapp, und packte den Speer mit beiden Händen.
So standen sie sich drei, vier Minuten gegenüber, rangen um den Speer und maßen ihre Kräfte. Beider Gesichter waren vor Anstrengung verzerrt.
Doch mit jeder Minute zitterten Jacobs Glieder stärker, kostete es ihn mehr Mühe, der ungestümen Kraft des Nez Perce standzuhalten.
Vielleicht lag es daran, daß der riesige Indianer, der selbst den hünenhaften Deutschen noch um einen Kopf überragte, einfach stärker war als er.
Vielleicht war Jacob durch die letzten Tage auch nur zu geschwächt. Jedenfalls fühlte er, daß er keine weitere Minute mehr durchhalten konnte.
Er erinnerte sich an den Kampf mit dem großen Wolf und daran, daß die überlegene Kraft der Bestie ihr zum Verhängnis geworden war.
Was bei dem Wolf unabsichtlich gelungen war, versuchte er jetzt mit Absicht. Ganz plötzlich gab er einfach nach und ließ sich fallen. Aber seine Hände hielten den Speerschaft weiterhin fest umklammert.
Der Nez Perce stolperte über den Weißen hinweg, ließ den Speer los, rutschte aus und fiel auf sein Gesicht.
Ein Raunen ging durch die Menge der Zuschauer und steigerte sich zu aufgeregtem Geschrei.
Als der Indianer aufstehen wollte, stand Jacob bereits über ihm und drückte die eiserne Speerspitze gegen seine Kehle.
»Stoß schon zu, Bleichgesicht!« keuchte Little Fox.
»Gibt Little Fox zu, daß ich ihn besiegt habe?«
»Ja!« knurrte der riesige Krieger. »Jetzt stoß zu. Vergieß mein Blut, damit der Kampf beendet ist.«
Jacob ritzte mit der Speerspitze den Hals des Indianers, bis Blut hervortrat. Dann zerbrach er die Waffe auf seinem Knie und schleuderte die beiden Teile fort.
»Was. tut der weiße Mann?«
»Ich habe dein Blut vergossen, Little Fox. Damit ist der Kampf beendet, und ich bin der Sieger.«
»Aber. Blut zu vergießen bedeutet, den Gegner zu töten.«
»Dann habe ich das falsch verstanden«, sagte Jacob gelassen. »Da der Speer zerbrochen ist, können wir nicht weiter um ihn kämpfen.«
Riding Bear trat vor und sagte laut: »Sandhaar hat Little Fox besiegt und sein Blut vergossen. Nach den Regeln, die Little Fox selbst verkündet hat, ist Sandhaar der Sieger.«
Leise sagte Riding Bear zu Jacob: »Das war ein guter Trick!«
Jacob nickte und ging zu seinen Freunden. Er, Irene, Martin und Urilla fielen sich in die Arme. Die Frauen weinten. Nur der kleine Jamie, den Irene fest an sich drückte, lachte laut. Er schien sich darüber zu freuen, wieder mit seiner Mutter und seinen beiden Paten vereint zu sein.
Erst ein lauter Schrei riß die Freunde aus ihrem Freudentaumel. Anne Myers hatte ihn ausgestoßen, als Little Fox ein Messer in den Leib ihres Mannes rammte.
Jetzt zog der Hüne die Waffe wieder heraus und tötete auf dieselbe Weise Frazer Bradden.
Dann ging er auf die beiden Frauen aus Greenbush zu.
»Nein, nicht!« schrie Jacob und wollte ihn aufhalten.
Aber Riding Bear sprang dazwischen und sagte scharf: »Sandhaar hat nicht für die Mörder gekämpft. Sie müssen sterben!«
»Aber doch nicht die Frauen!«
»Haben sie den weißen Mördern nicht geholfen?« fragte Riding Bear.
Da war es auch schon zu spät.
Mit Eliza Bradden und Anne Myers fanden die Letzten aus Greenbush den Tod.
*
Zwei Tage später nahmen die Freunde noch einmal Abschied voneinander, diesmal endgültig.
Martin und Urilla mußten zurück nach Abners Hope, um ihr Land zu bestellen.
Jacob, Irene und Jamie wollten weiter in Richtung Küste. Jetzt, wo sie die Cascades überwunden hatten, schien das Schwierigste hinter ihnen zu liegen.
Die Krieger der Nez Perce waren längst weggezogen. Etwa die Hälfte der Missionsindianer hatte sie begleitet. Was die Weißen mit ihren Familien angestellt hatte, hatte ihren Glauben an den Christengott zu sehr erschüttert, um länger in Molalla Spring zu bleiben.
Mit den übrigen Indianern wollten die Mercers ihr Lebenswerk fortsetzen. Es würde harte Arbeit sein, das zerstörte Vertrauen zurückzugewinnen.
Als die Planwagen abfahrbereit waren, fiel es den Auswanderern doch schwer, sich zu trennen.