Nun - wenigstens konnte er es versuchen.
Auch wenn es schmerzte, daß er dem Treck und damit Irene und Jamie nicht sofort nacheilte, er war sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Eine Entscheidung für das Leben!
Außerdem sprachen zwei gute Gründe gegen eine sofortige Verfolgung des Trecks.
Erstens bestand eine große Wahrscheinlichkeit, daß er die Spur in der Dunkelheit verlor. Zahllose Schluchten durchzogen die Cascade Mountains. Wenn er die falsche nahm und von der Spur abkam, war es fraglich, ob er den Treck überhaupt wiederfand.
Zweitens brauchte Jacob irgendwann Ruhe. Noch unterdrückte er die Schmerzen überall in seinem Körper und die Erschöpfung, die ihm immer wieder die Augen zudrücken wollte. Aber er wußte, daß er sich nicht ewig dagegen wehren konnte.
Wie geschwächt er war, merkte der große breitschultrige Deutsche, als er den Indianer zur Felsbarriere zog. Mehrmals mußte er seine Last ablegen.
Der Nez Perce ließ alles mit sich geschehen, ohne aus seiner Ohnmacht zu erwachen oder auch nur heftiger zu atmen. Die Lebenskraft schien immer schneller aus ihm herauszuströmen.
Jacob fischte den Lederbeutel mit Zündhölzern aus seiner Jackentasche, riß einen der kleinen Holzstäbe an der rauhen Felswand entlang und hielt die andere Hand schützend vor den aufflammenden Phosphorkopf.
Das Reisig und das trockene Büschelgras unten im Holzstapel fingen rasch Feuer. Knisternd fraßen sich die Flammen durch das Holz und sprangen auf die größeren Stücke über.
Mit der Sonne war auch ihre wärmende Kraft verschwunden. Jacob streckte seine Hände aus und genoß die Hitze des Feuers.
Er machte sich keine Gedanken darüber, daß die hochlodernden Flammen andere Nez Perce, sollten sich welche in der Nähe befinden, auf ihn aufmerksam machen konnten. Jetzt ging es um das Leben dieses einen Kriegers, der so leblos vor ihm am Boden lag.
Jacob zog das Messer des Kriegers aus dem perlenbestickten Hirschlederfutteral. An dem geschnitzten Hirschhorngriff saß eine schlanke, zur Spitze hin leicht gebogene Klinge: sein einziges Instrument bei der bevorstehenden Operation.
Er nahm einen an einem Ende brennenden Ast hoch und hielt die Klinge so lange ins Feuer, bis sie glühte. Mehr konnte er nicht tun, um sie zu desinfizieren.
Als sie sich so weit abgekühlt hatte, daß sie nur noch warm war, begann er mit dem Öffnen der erstaunlich schnell verheilten Schußwunde.
Blut schoß ihm entgegen, bespritzte die nackte Brust des Indianers und Jacobs Hände. Im Augenblick konnte er nichts dagegen tun.
Er bohrte die Klinge tiefer in das Fleisch des Kriegers.
Der Schmerz mußte ungeheuerlich sein. Der Nez Perce zuckte zusammen, stöhnte gequält und riß die Augen auf.
Jacob wußte nicht, ob der Indianer ihn sah oder ob sein Blick durch den Weißen hindurchging. Ein merkwürdiger Schimmer lag in den dunklen Augen.
Sie schlossen sich wieder, und ihr Besitzer fiel in die Apathie der Ohnmacht zurück. Es war gut für ihn, vergaß er mit allem anderen doch auch seine rasenden Schmerzen.
Dann spürte Jacob endlich den Widerstand der Kugel. Es war schwierig, sie allein mit Hilfe des Messers herauszuholen. Er mußte extrem vorsichtig sein, damit er die Wunde nicht so weit aufriß, daß ein Stillen der starken Blutung unmöglich wurde.
Einmal wäre fast der Messergriff aus seiner blutbesudelten Hand gerutscht. Jacob wischte beide Hände kurz an seiner Hose ab und fuhr damit fort, die Kugel Zoll für Zoll hervorzupulen.
Plötzlich sprang sie ihm entgegen, ein blutiges kleines Stück Blei. Fast unscheinbar, als sie auf dem Boden lag.
Und doch tödlich. Selbst im Körper eines so kräftigen Mannes, wie der Nez Perce einer war.
Es sah tatsächlich so aus, als würde die Kugel den Indianer auch nach ihrer Entfernung umbringen. Ein nicht abreißender Blutstrom ergoß sich über den Oberkörper des Ohnmächtigen.
Jacob nahm die Kräuter aus der bunten Maishülsentasche des Indianers und preßte ein großes Bündel auf die Wunde.
Es waren solche Kräuter, wie sie sich der Verletzte selbst aufgelegt hatte. Entweder hatte er sie schon vor seiner Verwundung bei sich getragen, oder er hatte sie danach in aller Eile zusammengesucht.
Jedenfalls hoffte Jacob, daß die Kräuter identisch waren. Wenn sie die Blutung nicht stillten, war der Nez Perce verloren. Er würde dann die Nacht mit Sicherheit nicht überstehen.
Das Blut floß weiter, trotz der Kräuter.
Aber der junge Deutsche gab nicht auf. Mit der letzten ihm verbliebenen Kraft drückte er das Bündel auf die Brust des äußerst flach atmenden Indianers. Der mächtige Brustkasten hob und senkte sich kaum noch.
*
Ebenezer Owen kniete mit fast hündisch ergebenem Blick vor seinem Henker und wartete darauf, daß Frazer Braddens Finger sich endlich um den Abzug des Navy-Revolvers krümmte.
So jedenfalls sah es für Irene aus - und auch für den mordgierigen Bruder des Treck-Captains.
Beide wurden überrascht, als Owens linker Arm hochflog und den 36er nach oben schlug.
Der Schuß krachte.
Aber der aus dem Lauf schießende Feuerstrahl geleitete die Kugel in den dämmrigen, fast dunklen Himmel.
Owen stieß seinen nach vorn gebeugten Kopf vor, direkt in Braddens Magen.
Der Mann mit dem Revolver stöhnte auf und krümmte sich zusammen. Er stolperte einen Schritt zurück, hielt sich aber auf den Beinen.
Owens linke Hand griff nach der Schußwaffe, doch im letzten Augenblick riß Bradden die Waffenhand zur Seite. Der Griff ging ins Leere.
Bradden sprang an Owens Seite und zog den Revolverlauf über dessen Schädel.
Der massige Mann sank zusammen, aber seine Hand verkrallte sich im Hosenbund des anderen. Erst als Bradden seine Stiefelspitze in Owens Unterleib rammte, ließ dieser los und fiel flach auf den Boden.
Sein Atem rasselte, begleitet von Keuchen und Würgen. Aber so sehr Owen auch gegen sein Schicksal ankämpfte, er kam nicht mehr auf die Beine, war zu geschwächt.
»Verdammter Hund!« fluchte Bradden und legte wieder den Revolverlauf auf ihn an. »Ich schicke dich noch vor der Dutch-Hure zur Hölle!«
Das metallische Klicken kam nicht vom Hahn des NavyRevolvers, sondern von dem eines langläufigen Starr-Modells, das in John Braddens Faust lag. Der Schuß mußte den Treck-Captain hergelockt haben.
Irene wußte nicht, ob sie über sein Erscheinen erleichtert sein sollte. Sie dachte daran, mit welchem Haß der Mann mit der feuerroten Gesichtsnarbe heute morgen gegen Jacob gekämpft hatte. Sie war sich nicht darüber im klaren, ob er sich nun gegen seinen Bruder stellen würde, um der Deutschen beizustehen.
»Mach keinen Unsinn, Frazer!« herrschte der Treck-Captain seinen jüngeren Bruder an.
Unwillig wanderte der Blick des narbengesichtigen Mannes von der Waffe in Frazers Braddens Faust zu Ebenezer Owen. Dieser lag röchelnd am Boden, das große Bowiemesser noch im Arm.
»Was, zur Hölle, hast du mit Ebenezer angestellt?« wollte John Bradden von seinem Bruder wissen.
»Frag lieber, was er mit mir anstellen wollte, John!« fauchte Frazer. In seiner Stimme schwang deutlich die Enttäuschung darüber mit, daß ihm sein Bruder in die Quere gekommen war.
»Was?« fragte der Treck-Captain.
Frazer wedelte mit dem Lauf des 36ers in Owens Richtung.
»Er... er wollte mich töten! Fast hätte er auf mich geschossen!«
John blickte den Bruder Ungläubig an.
»Aber du hast den Revolver in der Hand, Frazer. Ebenezer liegt verwundet am Boden. Dein Messer steckt in seinem Arm. Wie erklärt sich das?«
»Ich habe mich nur verteidigt, John. Glaub mir, ich hatte keine Wahl.«
»Sie hatten jede Wahl!« stieß Irene zornig hervor. »Nur Sie allein sind schuld an dem hier, Bradden!«
»Verdammte Dutch-Schlampe!« Frazer Bradden wirbelte herum und legte den Whitney auf die Frau an.