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Sein älterer Bruder riß ihm die Waffe aus der Hand und sagte mit wutverzerrtem Gesicht: »Jetzt ist endgültig Schluß mit dem Herumgeballere, Frazer. Willst du uns mit der Schießerei die gottverdammten Rothäute auf den Hals hetzen?«

»Pah! Wir haben sie doch alle erledigt.«

»Den einen Trupp, ja. Aber wie ich die Rothäute kenne, haben sie mehrere Jagdtrupps ausgeschickt. Nach der Größe des Indianerlagers zu urteilen, müssen mehr Krieger dort gelebt haben als die, die uns gestern angegriffen haben. Also reiß dich verdammt noch mal zusammen!«

Im Unterholz entstand Bewegung, und drei Männer traten daraus hervor: Lewis Bradden sowie Fred Myers und sein ältester Sohn Sam.

Fred Myers fragte, was los sei.

»Das versuche ich gerade herauszufinden«, knurrte der Treck-Captain. »Es scheint nicht so ganz einfach zu sein.«

»Doch, das ist es«, stöhnte Ebenezer Owen. Er setzte sich unter starken Schmerzen auf und lehnte Rücken und Kopf gegen einen Baumstamm.

»Erzähl!« forderte John Bradden.

»Dein kleiner Bruder wollte der Dutch-Lady bei lebendigem Leib den Skalp abziehen«, berichtete Owen mit brüchiger Stimme. »Ich kam im letzten Moment dazwischen.«

»Und du hast mich mit der Waffe bedroht!« zischte Frazer Bradden vorwurfsvoll.

»Yeah, das habe ich«, nickte der Verwundete. »Anders war dir nicht beizukommen.«

»Wir hätten sie am Canyon zurücklassen sollen, so wie sie es wollte«, brummte John Bradden ärgerlich. Auch wenn er Irenes Namen nicht nannte und sie nicht ansah, war klar, wen er meinte. »Sie macht uns nichts als Ärger!«

»Du irrst dich, John«, widersprach Owen. »Der Ärger ging ganz von deinem Bruder aus!«

Die Antwort des Treck-Captains war nur ein undeutliches Knurren. Er konnte die Tatsachen nicht verleugnen, und doch widerstrebte es ihm, sich gegen seinen Bruder auszusprechen. Vielleicht weil er wußte, daß er selbst in der Not bei Frazer Rückhalt fand, wie getrübt dessen Verstand auch sein mochte.

Er wandte sich an die eben hinzugekommenen Männer.

»Bringt Ebenezer zu den Wagen! Seine Wunde muß verbunden werden.«

Auf dem Rückweg zu den Planwagen achtete Irene darauf, Frazer Bradden nicht zu nahe zu kommen. Dieser unberechenbare Mann flößte ihr Angst ein. Er war wie ein wildes Tier, das jederzeit die Kontrolle über sich verlieren und sein Opfer anfallen konnte - aus reiner Mordlust.

Und sein Opfer würde Irene sein!

In der Mitte der zu einem Kreis zusammengestellten Wagen brannte ein Feuer. Geschützt durch Wagen und Bäume, würde es außerhalb des Pinyonwalds nicht zu sehen sein, hofften die Menschen aus Greenbush. Zwei große Kaffeekannen standen auf dem Feuer, und ein voluminöser Kessel hing darüber. Der Duft des frischen Kaffees vermischte sich mit dem von Bohnen und Speck.

Für viele der Menschen nach dem anstrengenden Tag ein verführerischer Duft. Aber nicht für Irene. Auch ihr Magen war leer, aber sie verspürte nicht die geringste Lust aufs Essen.

Sie wollte zu Ebenezer Owen gehen, um sich bei ihm zu bedanken. Die Männer hatten ihn in seinen Wagen gebracht, zu seiner kranken Frau.

Der Zeitpunkt war schlecht gewählt, wie Irene sah, als sie die Plane zurückschlug und ins Innere spähte. Gerade hatte Fred Myers das große Bowiemesser aus Owens Arm gezogen, und Myers' Frau Anne verband die Wunde.

Irene ließ die Plane wieder zurückfallen und stieg in ihren eigenen Wagen. Jamie wurde wach und schrie nach seiner Mutter. Er hatte Hunger.

Die junge Frau zog die Jacke aus, streifte Kleid und Unterkleid über die Schultern und gab ihrem kleinen Sohn die Brust. Er saugte zufrieden, hin und wieder glucksend.

Jamie bemerkte die Tränen nicht, die über die Wangen seiner Mutter liefen, als Irene an Jacob dachte.

*

Etwas ließ Jacob zusammenfahren.

Er war eingenickt.

Aber er saß noch immer neben dem Nez Perce und drückte die Kräuter auf die Wunde. Selbst im Schlaf der Erschöpfung hatte er um das Leben des Indianers gekämpft.

Was hatte ihn geweckt?

War es das Feuer gewesen, das langsam in sich zusammenfiel?

Oder eine Bewegung außerhalb des flackernden Lichtkreises? Jacobs Augen spähten in die Finsternis, ohne etwas zu entdecken.

Seltsam, er mußte intensiv an Irene denken. Hatte er von ihr geträumt?

Er fühlte sich fast, als hätte sie im Schlaf zu ihm gesprochen und ihm das gesagt, was keiner von Angesicht zu Angesicht auszusprechen wagte: daß sie sich liebten.

Aber Irene war nicht da und auch Jamie nicht. Nur Jacob, das Feuer und der Nez Perce.

Lebte der Indianer überhaupt noch?

Bei näherem Hinsehen stellte Jacob erstaunt fest, daß die tiefe Wunde in der Brust nicht mehr blutete. Erst hatte er es nicht bemerkt, weil die ganze Brust rot war, über und über mit verkrustetem Blut bedeckt.

Aber das Aufhören der Blutung mußte nicht unbedingt ein gutes Zeichen sein. Es konnte auch bedeuten, daß der Nez Perce gestorben war, während der junge Deutsche schlief.

Erleichtert bemerkte Jacob, wie sich der Brustkorb des Indianers hob und senkte.

Täuschte er sich, oder atmete der Verwundete jetzt weniger flach als zuvor? Taten die Kräuter bereits ihre Wirkung?

Offenbar. Sie hatten die Blutung gestillt und beschleunigten den Heilungsprozeß, auch wenn der Nez Perce noch längst nicht über den Berg war.

Jacob warf die blutdurchtränkten Kräuter weg, legte frische auf die Wunde und suchte nach einem Verband.

So geschwächt, wie der rote Krieger war, konnte er dem Treck kaum zu Fuß gefolgt sein. Von dieser Überlegung angetrieben, kletterte der deutsche Auswanderer über die Felsbarriere und ging suchend nach Osten. In die Richtung, aus der die Wagen gekommen waren und zwangsläufig auch der Nez Perce.

Immer wieder steckte Jacob Zeige- und Mittelfinger in den Mund, um schrille Pfiffe auszustoßen. Nach einer Weile erhielt er endlich die ersehnte Antwort, ein lautes Wiehern. Bildete er es sich ein, oder klang das Pferd freudig erregt, in der Nacht nicht allein zu sein?

Jacob fand sogar zwei Pferde, die mit angehobbelten Vorderläufen in einem kleinen Felskessel standen.

Beides waren Appaloosa-Hengste mit den typischen Flecken im Fell. Mond und Sterne schienen hell genug, um ihn das erkennen zu lassen.

Der eine Hengst war grau, die Flecken dunkel, das übrige Fell etwas heller. Das andere Tier hatte eine eigentümliche Färbung. Der schlanke Kopf, die Vorderläufe und der vordere Teil des Körpers waren braun, der Rest weiß mit braunen Flecken. Ein edles, schönes Tier.

Und stolz. Erst nach viel gutem Zureden konnte sich Jacob ihm nähern und es dadurch beruhigen, daß er seine flache Hand auf die Nüstern legte.

Das braunweiße Pferd war das Reittier des verwundeten Nez Perce; es trug einen Indianersattel. Den größten Teil seiner Ausrüstung, Waffen, Verpflegung und Decken, hatte er auf den grauen Appaloosa gepackt.

Jacob stutzte, als er den großen ovalen Schild sah. Die Verzierung der Lederbespannung, ein reitender Krieger mit einem Bärenkopf, hatte er schon einmal gesehen!

Ja, es war erst gestern gewesen. Das war der Schild, den der Indianer zurückgelassen hatte, der Irene und Carol Owen angegriffen hatte.

Der Indianer, auf den Irene geschossen hatte!

Er mußte zum Ort des Kampfes zurückgekehrt sein, um seinen Schild und die Lanze zu holen, die neben dem Schild an dem Pferd hing.

Jacob lachte trocken.

Er konnte nicht anders bei dem Gedanken, daß die Kugel, die er unter Mühen aus der Brust des Nez Perce geholt hatte, aus seinem eigenen Army Colt stammte.

Er führte die beiden Tiere zur Felsbarriere, riß ein Stück von einer indianischen Decke ab und wickelte es als Verband um die Brust des Kriegers.

Nachdem er Holz zusammengesucht und nachgelegt hatte, damit das Feuer nicht ausging, aß er etwas von der Verpflegung des Nez Perce. Jetzt, wo alle Arbeit getan war, verspürte Jacob einen Bärenhunger. Die faustgroßen Bälle, die er in einem Rohhautbeutel fand, bestanden aus getrocknetem Fleisch und undefinierbaren pflanzlichen Stoffen. Sie schmeckten talgig, nicht besonders gut, aber sie stillten seinen Hunger.