Riding Bear dachte nach, eine ganze Weile.
Schließlich sagte er: »Riding Bear glaubt, Sandhaar zu verstehen. Aber Riding Bear versteht nicht alles. Weshalb haben die Männer aus Greenbush den Kaminu den Tod geschworen?«
Jacob erzählte ihm von der Fieberepidemie, die fast ganz Greenbush ausgelöscht hatte. Und davon, daß die Siedler den Nez Perce die Schuld an der Katastrophe gaben.
»Das hat Riding Bear nicht gewußt«, sagte der Indianer. »Auch unter den Kaminu hat das Fieber gewütet, aber es nahm nur wenigen das Leben. Vierauge hat den Kaminu geholfen und wollte auch nach Greenbush, um den Weißen beizustehen. Der plötzliche Schnee ließ ihn nicht durchkommen, und er mußte ins Lager der Kaminu zurückkehren, bis der Schnee schmolz.«
»Ich habe davon gehört«, nickte Jacob. »Vierauge ist demnach Simon Mercer aus Molalla Spring.«
»Ja«, bestätigte Riding Bear. »Vor seinen Augen hat er noch einmal zwei Augen aus Glas. - Das mit dem Fieber ist nicht die Wahrheit.«
»Was meint Riding Bear?«
»Bei den Kaminu brach das Fieber erst aus, nachdem zwei Männer aus Greenbush sie besucht hatten. Sie haben das Fieber zu uns gebracht. Also sind die Weißen selbst schuld an ihrem Verhängnis.«
»Die Wahrheit wird sich wohl nicht mehr feststellen lassen«, seufzte Jacob. »Aber sie ist letztlich auch gleichgültig. Wer wen auch mit dem Fieber angesteckt hat, er tat es nicht mit Absicht. Auch der Missionar, Vierauge, unterließ die Hilfe für Greenbush nicht absichtlich. Es war ein Unglück, kein Mord. Und deshalb ist es keine Entschuldigung für Mord.«
»Sandhaars Worte sind gut. Sind es auch seine Gedanken?«
»Ich sage, was ich denke. Und ich denke, was ich sage. So ist es immer gewesen.«
»Hat Sandhaar seine Meinung auch den anderen Weißen gesagt?«
»Ja.«
»Haben sie Sandhaar deshalb angegriffen?« »Ja.«
»Gehört die schöne junge Squaw mit dem Goldhaar und dem kleinen Kind zu Sandhaar?«
Jacob war zutiefst überrascht. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet.
Stotternd antwortete er wiederum mit »Ja«.
»Dann sind es Sandhaars Squaw und sein Kind«, stellte Riding Bear fest. »Deshalb hat die Squaw verzweifelt nach Sandhaar gerufen, als er in den Canyon gestürzt war. Die anderen Weißen mußten sie zwingen, mit ihnen zu kommen.«
So ähnlich hatte Jacob es sich bereits gedacht. Die Sorge um Irene und Jamie drängte sich in den Vordergrund. Er mußte ihnen nach!
»Sie gehören zu mir«, sagte der junge Deutsche. »Aber die Frau ist nicht meine Squaw, und das Kind ist nicht mein Sohn.«
»Das verstehe ich nicht«, erwiderte Riding Bear mit leichtem Kopfschütteln. »Sandhaar liebt doch die Squaw und das Kind.«
Verblüfft starrte Jacob den Indianer an.
»Woher will Riding Bear das wissen?«
»Riding Bear hat Sandhaars Augen gesehen, als wir von den beiden sprachen.«
»Die Squaw liebt einen anderen Mann, den Vater des Kindes«, versetzte Jacob brüsk. »Er sucht in Kalifornien nach Gold. Ich bringe die beiden zu ihm.«
»Warum?«
»Weil. weil ich es versprochen habe.«
»Sandhaar ist verrückt.«
Jetzt fragte Jacob: »Warum?«
»Weil er die Squaw, die er liebt, nicht bei sich behält, sondern zu einem anderen Mann bringt. Das ist doch verrückt!«
»So habe ich das noch nie betrachtet«, meinte Jacob nachdenklich. »Aber vielleicht hast du nicht ganz unrecht, Riding Bear.«
»Bestimmt nicht!« bekräftigte der Nez Perce und sagte dann: »Riding Bear glaubt Sandhaar.«
»Was denn?« fragte der Deutsche, den die Gedankensprünge des Indianers immer mehr verwirrten.
»Daß er nicht wußte, was die Weißen getan haben, als er mit ihnen gegen die Kaminu kämpfte.«
»Wieso glaubst du mir?«
»Weil du zugegeben hast, die Frau, die du liebst, zu einem anderen Mann zu bringen. Wer so etwas Verrücktes zugibt, kann kein Lügner sein.«
Jacob verstand diese Logik nicht ganz. Aber die Lehre, die Riding Bear daraus zog, beruhigte ihn. Sie bedeutete nämlich: Jacob mußte nicht ständig damit rechnen, daß der Nez Perce ihm die Kehle durchschnitt oder ihn skalpierte.
Der Weiße blickte zu den beiden Pferden, die friedlich in etwa zwanzig Yards Entfernung grasten. Die Sorgen und Nöte der Menschen waren für sie nicht von Bedeutung. Fast beneidete Jacob sie.
»Riding Bear ist schon wieder gut bei Kräften«, sagte der Auswanderer.
»Sandhaar hat recht«, nickte der Indianer. »Die Kräuter, die er Riding Bear auflegte, wirken gut.«
Der Indianer wies zu den beiden Pferden.
»Der Graue gehört Sandhaar. Er muß den Wagen rasch folgen, damit er die Squaw von den weißen Männern holen kann, um ihn zu dem anderen weißen Mann zu bringen. Falls Sandhaar nicht vorher vernünftig wird.«
»Das ist leider keine Frage der Vernunft«, seufzte Jacob und sah dann den Indianer an. »Ich habe nichts, um das Pferd zu bezahlen, Riding Bear.«
»Sandhaar hat es bereits bezahlt«, entgegnete der Nez Perce und berührte mit der Hand seine Brust. »Hiermit.«
»Und du?« fragte Jacob. »Wirst du die Menschen aus Greenbush entkommen lassen?«
»Nein!«
Der Krieger antwortete ohne zu überlegen, und schlagartig verhärteten sich seine Züge.
»Riding Bear wird sie verfolgen und sie töten, sobald er wieder reiten kann. Sandhaar möge die goldhaarige Squaw und den kleinen Jungen vorher zu sich holen. Riding Bear weiß nicht, was passiert, wenn er die Mörder seiner Familie trifft.«
»So etwas habe ich mir gedacht«, ächzte Jacob.
Sie aßen von Riding Bears Vorräten und tranken dazu klares Wasser, das Jacob von einem nahen Creek holte.
Jede Bewegung sandte Schmerzwellen durch seinen Körper. Er hoffte, daß es mit der Zeit nachließ oder daß er sich daran gewöhnte.
Er ertrug es genauso klaglos wie Riding Bear seine zweifellos viel größeren Qualen. Der Nez Perce konnte kaum ohne Hilfe stehen. Und doch sprach er so, als würde er die Verfolgung des Trecks schon in wenigen Tagen wiederaufnehmen. Der Weiße bewunderte die eiserne Disziplin des Roten.
Nach dem Essen suchte Jacob seine wenigen Sachen zusammen. Er fand sogar seinen zerbeulten Filzhut. Sonst hatten die Leute aus Greenbush ihm nichts Brauchbares zurückgelassen, leider auch nicht seine Waffen.
Als er zu Riding Bear trat, um sich zu verabschieden, zog dieser sich an einem Felsen hoch und streckte ihm ein Messer mit breiter, langer Klinge entgegen.
Jacob prallte zurück und ballte die Hände zu Fäusten. Hatte der Indianer ihn die ganze Zeit über getäuscht?
Wollte er doch alle Weißen töten?
»Sandhaar traut Riding Bear nicht«, stellte der Indianer mit düsterer Miene fest. »Glaubt er, die Kaminu sprechen mit gespaltener Zunge?«
Das klang wie ein Vorwurf.
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, erwiderte der Auswanderer« und zeigte auf das Messer. »Weshalb bedroht ein Mann einen anderen mit der Waffe?«
»Die weißen und die roten Männer müssen noch viel übereinander lernen, bevor sie anfangen können, einander zu verstehen«, stellte Riding Bear fest, und ein Hauch von Trauer schwang in seinen Worten mit. »Riding Bear ist so schwach, daß er einen Kampf gegen Sandhaar an diesem Tag nicht gewinnen könnte. Wollte Riding Bear ihn töten, hätte er es schnell getan, ohne Warnung. Aber der Kaminu wollte dem weißen Mann nur dieses Messer schenken, damit er den Männern von Greenbush nicht ganz ohne Waffen gegenübertreten muß. Es gehörte einst dem Vater von Riding Bear.«
Jacob schämte sich für seine Überreaktion und stammelte eine Entschuldigung.