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»Nimm das Messer, Sandhaar!«

Riding Bear reichte ihm die Waffe und dazu eine mit leuchtenden Perlen bestickte Lederscheide, die der Deutsche an seinem Gürtel befestigte.

Der Nez Perce ließ es sich nicht ausreden, seine Nahrungsvorräte und Decken mit dem Weißen zu teilen. Jacob schnürte alles zu einem Bündel, das er auf dem Rücken des grauen Appaloosas festzurrte.

Dann wollte er sich bei Riding Bear bedanken. Doch er fand nicht die richtigen Worte.

Was sollte er dem Indianer wünschen?

Eine gute Besserung?

Das war lächerlich wenig angesichts des schmerzlichen Verlusts, den Riding Bear durch die Ermordung seiner Familie erlitten hatte.

»Sandhaar muß reiten«, kürzte der Nez Perce die Abschiedsprozedur ab und zeigte hinauf zur Sonne. »Er muß das Licht von Mutter Sonne ausnutzen, um möglichst viel Weg zurückzulegen.«

Dann gab der rote Mann dem weißen noch einige Hinweise bezüglich des Weges. Über Wegmerkmale, falsche Abzweigungen und tückische Fallen, mit der die Natur allzu leichtsinnige Bezwinger der Berge bestrafte.

»Wenn Sandhaar das alles beachtet«, schloß der Nez Perce, »wird er die Mission von Molalla Spring wohlbehalten erreichen.«

Jacob blickte ihn erstaunt an. »Warum glaubt Riding Bear, daß ich nach Molalla Spring reiten werde?«

Er hatte dem Indianer absichtlich nichts von dem Plan der Siedler erzählt, die Mission aufzusuchen. Jacob wollte nichts tun, was ein weiteres Blutvergießen förderte.

»Sandhaar will doch den Wagen aus Greenbush folgen«, antwortete der Indianer. »Und die fahren nach Molalla Spring.«

»Woher will Riding Bear das wissen?«

»Die weißen Mörder werden ihre Vorräte auffrischen wollen. Dort haben sie Gelegenheit dazu.« Der Blick des Indianers verdüsterte sich. »Außerdem wollen sie in Molalla Spring vielleicht noch etwas anderes erledigen.«

»Was?« schnappte Jacob.

»Sandhaar möge an Vierauge denken, der den Weißen in Greenbush nicht zu Hilfe kommen konnte. Wenn die Bleichgesichter die Nez Perce deshalb hassen, müssen sie den weißen Medizinmann dann nicht noch mehr hassen?«

»Mein Gott!« stöhnte Jacob auf. »Du hast recht, Riding Bear!«

»Sandhaar muß sich beeilen, wenn er Vierauge helfen will. Will Sandhaar das für Riding Bear tun?«

»Warum für Riding Bear?« fragte der Deutsche. »Was liegt dir an dem Missionar?«

»Er hat meinen Leuten gegen das Fieber geholfen. Und es gab einmal eine Zeit, vor vielen Wintern, da war Vierauge für mich fast ein zweiter Vater. Damals, Riding Bear hatte noch einen anderen Namen und war ein Kind, lebten meine Leute bei Vierauge in Molalla Spring. Dort lernte Riding Bear, wie viele andere Kaminu, die Sitten und die Sprache der Weißen. Noch immer leben Kaminu dort, aber meine Leute gingen zurück in die Berge.«

»Warum?«

»Die Weißen erzählten den Kaminu von ihrem Gott und seinem Sohn Christus. Von den vielen guten Dingen, die Christus die Menschen gelehrt hatte und nach denen sie leben sollten. Auch die Kaminu sollten so leben. Aber immer wieder sahen meine Leute, daß die Weißen selbst sich nicht an die Worte von Christus hielten. Vierauge sagte, das seien Sünden, die man bekämpfen müsse. Aber meine Leute hielten es für besser, erst gar keine Sünden zu begehen. Riding Bears Vater sagte Vierauge, alles sei gut gewesen, solange die Kaminu nur Jagen, Essen, Trinken und Schlafen kannten. Seit sie aber bei den Weißen lebten, sei alles schlecht und müsse erst gut gemacht werden. Dann schieden meine Leute von Vierauge, aber nicht in Feindschaft.«

Der Nez Perce blickte zu Boden und schwieg nachdenklich. Schließlich sah er Jacob an und fuhr fort: »Als Riding Bear mit seinen Brüdern allen Weißen den Tod schwor, hat er nicht bedacht, daß Vierauge viel Gutes für die Kaminu getan hat. Riding Bear will nicht auch noch seinen zweiten Vater verlieren. Aber er ist noch zu schwach zum Reiten. Deshalb möge Sandhaar seine kräftige Hand über Vierauge halten, wenn er es vermag.«

»Ich werde es versuchen!« versprach der junge Auswanderer. »Ich werde mich beeilen!«

Und Jacob beeilte sich.

Auch wenn es ungewohnt für ihn war, ein ungesatteltes Indianerpferd zu reiten.

Bald war Riding Bear jenseits der Felsbarriere verschwunden. Die Begegnung mit dem Nez Perce erschien Jacob plötzlich seltsam unwirklich, wie ein Traum.

*

Im Westen der Cascade Mountains, einen Tag später

Fred Myers, der die letzte Wache hatte, weckte das Lager durch laute Rufe beim ersten Schimmer blaßroter Sonnenstrahlen, die sich über das hügelige Gelände hinter dem Treck tasteten.

Der kleine Mann mit dem zerknitterten Gesicht kletterte in jeden Wagen und rüttelte alle fest durch, die sich nicht schnell genug aus Morpheus' Armen lösten.

Zu Irene kam er, als sie Jamie stillte. Sie bemühte sich nicht, ihre Blöße vor ihm zu verdecken. In den letzten Tagen hatte sie sich in ihr Schicksal ergeben. Die Trauer um Jacob hatte sie abgestumpft.

Sie blickte Ebenezer Owens Schwager nur müde an.

»Beeilung!« schnarrte dieser. »Wir werden früh aufbrechen und wollen Molalla Spring heute auf jeden Fall erreichen.«

»Soll mein Sohn deshalb verhungern?« fragte Irene matt.

»Wirklich rührend, diese Mutterliebe«, sagte Myers kalt und stieg vom Wagen.

Die Art, wie er das sagte und wie er Mutter und Kind dabei ansah, gefiel Irene nicht. Aber die Stumpfheit, die von ihr Besitz ergriffen hatte, ließ sie nicht länger darüber nachdenken.

Die Bilder der letzten Tage zogen an ihrem geistigen Auge vorüber, während Jamie gierig trank.

Der Weg durch die Cascades war beschwerlich. Jetzt, wo es beständig bergab ging, nicht weniger, eher noch mehr.

Immer wieder mußten die Siedler ihre Zugtiere zurückhalten und die Wagen abbremsen, damit sie auf den abschüssigen Strecken nicht außer Kontrolle gerieten. Ein Umkippen oder der Sturz in einen Abgrund konnten die verhängnisvollen Folgen der kleinsten Unachtsamkeit sein.

Es waren harte Tage für die Männer und Frauen.

Und angsterfüllte Tage.

Obwohl weit und breit keine Anzeichen von den Nez Perce zu entdecken waren, wähnten sich die Siedler keineswegs in Sicherheit.

Die Angst war bei ihnen unterschiedlich ausgeprägt, bei den Frauen mehr als bei den Männern. Fred Myers und die Bradden-Brüder hatten wohl gar nicht soviel gegen eine erneute Begegnung mit den Indianern, solange sie den Weißen nur weitere Skalps eintrug.

Irene hatte besonders Angst um Jamie. Allerdings wußte sie nicht, wen sie mehr fürchten sollte: die Nez Perce oder die Leute aus Greenbush.

Die junge Deutsche kümmerte sich viel um die Owens, nicht ganz uneigennützig. Ebenezer Owen hatte ihr schließlich beigestanden. Bei ihm hoffte sie im Ernstfall Schutz zu finden. Noch lenkte Fred Myers' Sohn Pete seinen Wagen, aber seine Armwunde verheilte recht gut.

Im Gegensatz zur Verletzung seiner Frau. Carol Owen hatte kaum noch einen klaren Moment. Ihr Arm sah ziemlich übel aus. Oft phantasierte sie und rief nach ihren Kindern, die doch in Greenbush begraben lagen. Wenn das Schicksal gnädig mit ihr war, ließ es die Frau in einen fiebrigen Schlaf versinken.

Ihr schlechter Zustand war in Irenes Augen der wichtigste Grund, Molalla Spring möglichst rasch zu erreichen.

Als Jamie sein Bäuerchen gemacht hatte, wickelte Irene ihn sorgsam wieder in seine Decken. Sie wusch sich, zog sich an und verließ den Wagen mit einem Eimer.

Beim Waschen hatte sie festgestellt, daß ihr Wasserfaß fast leer war. Der Treck lagerte an einer Quelle, aus der ein kleiner Wildbach hervorsprudelte. Sie war Irenes Ziel.

Auch wenn sie Molalla Spring heute noch erreichten, wollte sie den Wasservorrat sicherheitshalber ergänzen. Auf dem langen Wagentreck nach Oregon hatte sie gelernt, immer mit dem Schlimmsten zu rechnen. Ein plötzlicher Erdrutsch oder ein sonstiges Unglück konnte die Wagen aufhalten, vielleicht viele Meilen von einem Gewässer entfernt.