Im Lager herrschte schon eilige Betriebsamkeit. Zeltplanen wurden abgebaut und Schlafsäcke zusammengerollt. Die Flammen des Lagerfeuers züngelten hoch. Anne Myers und Eliza Bradden kümmerten sich um das Frühstück.
Fast wäre Irene mit einem Mann zusammengestoßen, der vor dem großen Bradden-Wagen kauerte und Wagenschmiere aus einem Eimer auf die Radnaben aus Hartgummi strich. Im letzten Moment wich Irene aus, trat aber aus Versehen gegen den Eimer, der umstürzte.
»Verdammt!« knurrte der Mann, stellte den Eimer wieder auf und blickte unwillig über seine Schulter.
Irene zuckte zusammen, als sie Frazer Braddens stoppelbärtiges Gesicht erkannte.
Sie war dem Mann, der sie fast skalpiert hatte, in den letzten Tagen aus dem Weg gegangen, so gut es ging. Aber natürlich kam es immer wieder zu Begegnungen. Und dann spürte Irene seinen Blick auf sich brennen, jedesmal. Ein Blick, der das Blut in ihren Adern gefrieren ließ. Als wolle Bradden ihr damit sagen, daß er ihren Skalp doch noch bekommen würde.
»Die Dutch-Hure!« stieß Bradden verächtlich hervor.
Irene wandte sich ab und ging rasch weiter. Doch sie spürte Braddens Blick in ihrem Rücken.
Irene schleppte einen schweren Wassereimer nach dem anderen zu ihrem Wagen und leerte ihn unter Mühen in das große Faß. Niemand half ihr, obwohl die Männer sahen, wie sie sich abmühte. Das zeigte ihr einmal mehr, daß nicht nur Frazer Bradden ihr ablehnend gegenüberstand. Die Deutsche wurde im Treck allenfalls geduldet.
Als sie den vierten Eimer heranschleppte und ihn gerade auf dem Boden absetzte, um ihre schmerzenden Muskeln zu entspannen, drang ein Wimmern an ihre Ohren, das sie sofort erkannte. Sie hatte es in den letzten zehn Monaten tausendmal gehört, und nie hatte es die junge Mutter unberührt gelassen. Es war unverkennbar ihr kleiner Jamie, der dort weinte.
So gut, wie Irene das Weinen ihres Sohns kannte, so gut konnte sie es auch beurteilen. Sie wußte, wann er Hunger hatte, wann ihn die nassen Windeln störten oder wann er aus Angst vor der noch weitgehend unbekannten Welt die Nähe seiner Mutter suchte.
Jetzt schrie er aus Leibeskräften vor Angst. So sehr, daß nicht die bloße Abwesenheit der Mutter der einzige Grund sein konnte. Da mußte etwas anderes sein, das ihn schreien ließ wie am Spieß.
Von einer plötzlichen Panik erfüllt, ließ Irene den Wassereimer stehen und rannte zu ihrem Wagen - um etwas zu sehen, das ihre Panik noch steigerte.
Zwei Männer standen neben dem Wagen, Fred Myers und Frazer Bradden.
Myers hielt das schreiende Kind mit grobem Griff gepackt. Bradden hatte sein großes Bowiemesser wieder - und hielt die scharfe Klinge dicht an den kleinen Hals des Kindes.
Irene erstarrte.
Auch wenn alles in ihr danach drängte, ihren Sohn den beiden Männern zu entreißen und in die Arme zu schließen, wollte sie nichts tun, was Bradden und Myers zu einer unüberlegten Handlung hinriß.
»Was. was tut ihr mit Jamie?« schrie sie mit einer sich vor Angst überschlagenden Stimme.
Der Mann mit dem großen Messer grinste breit und häßlich, als er antwortete: »Wir brauchen den Kleinen, um dir zu zeigen, daß wir keinen Spaß verstehen.«
Und er setzte die Klinge an Jamies Kehle.
*
Fünfzehn Meilen östlich, etwa zur selben Zeit
Die Unruhe des Appaloosas weckte Jacob. Das Tier war offensichtlich nervös. Unablässig schnaubte es und scharrte mit den Hufen.
Rasch verging die Müdigkeit des jungen Deutschen. Er kämpfte sich aus den Decken und griff nach seiner einzigen Waffe, Riding Bears großem Messer. Er sprang auf und zog die lange Klinge aus der Lederscheide an seiner Hüfte.
Er duckte sich in den Schatten der großen Pappel, unter der er sein Nachtlager aufgeschlagen hatte, und blickte sich suchend nach der Gefahr um, die der Graue zu wittern schien.
Ein seltsames Licht erfüllte das Pappelwäldchen, nicht mehr die Schwärze der Nacht, aber auch noch längst nicht Tag. Es war ein schmutziges, düsteres Grau, in das sich unendlich langsam ein blaßroter Schimmer mischte. Dafür sorgte die Sonne, die langsam über die Berge im Osten kletterte, aber noch nicht so hoch und so stark war, um die Lichtung zwischen den Pappeln richtig zu erhellen.
Die aufmerksamen Augen des Auswanderers gewöhnten sich schnell an das Dämmerlicht, als sie die Umgebung absuchten. Sie entdeckten kein Anzeichen für eine Gefahr.
Waren Nez Perce in der Nähe?
Wenn ja, hielten sie sich so gut versteckt, daß Jacob sie nicht entdeckte.
Die Männer aus Greenbush konnten kaum der Grund für die Nervosität des Appaloosas sein. Zu seinem Leidwesen hatte Jacob die Distanz zu dem Treck nicht so verkürzt, wie er es sich gewünscht hatte.
Er mußte sich erst an das Indianerpferd gewöhnen und das Tier sich auch an ihn. Ein Weißer hatte eine andere Art zu reiten als ein Roter.
Außerdem mußte Jacob ein paar Pausen einlegen, weil seine Schmerzen durch den Ritt wieder stärker wurden.
Er war bis zum Einbruch der Dunkelheit geritten, aber der Treck hatte sich einen Vorsprung von ungefähr einer Tagesreise bewahrt. Gemessen an der Entfernung, die ein schwerer Wagen in dieser unzugänglichen Gegend zurücklegte.
Ein Reiter war schneller. Deshalb war Jacob guter Hoffnung, den Treck spätestens heute abend zu erreichen.
Falls ihm nicht etwas dazwischenkam!
Was war es nur, das den Appaloosa derart in Aufregung versetzte?
»Schade, daß du meine Sprache so wenig beherrschst wie ich deine, Grauer«, flüsterte Jacob. »Dann könntest du mir helfen und ich dir vielleicht auch.«
Obwohl er sehr leise gesprochen hatte, schien ihn das Pferd zu hören. Er hatte es in zwanzig Yards Entfernung mit einer langen Leine an einen Baumstamm gebunden, so daß es genug Freiheit zum Grasen hatte. Jetzt spitzte es die Ohren, hörte mit seinen Nervositätsäußerungen auf und drehte den Kopf zu Jacob.
Jacob blickte noch einmal in die Runde, ohne etwas Verdächtiges zu entdecken.
Er steckte das Messer wieder ins Futteral und sagte, jetzt etwas lauter: »Vielleicht hast du einfach nur schlecht geträumt, Grauer, he? So wie ich.«
Er ging zu dem Pferd hinüber und strich beruhigend über seine Nüstern, während er an die wirren Träume der vergangenen Nacht dachte.
So wirr, daß er nicht mehr im einzelnen zu sagen vermochte, was er geträumt hatte. Aber immer hatten sich seine Träume um Irene und Jamie gedreht.
Kurz vor dem Aufwachen hatte er geträumt, daß Jamie völlig verängstigt brüllte und Irene nach Jacob um Hilfe rief. Aber er konnte sich nicht mehr an den Grund erinnern. Nur noch an die Todesangst auf den Gesichtern von Mutter und Kind.
Der Appaloosa beruhigte sich. Wahrscheinlich hatte das Tier tatsächlich einen Alptraum gehabt.
Zwar wußte Jacob nicht, ob Tiere so träumten wie Menschen oder ob sie überhaupt träumten. Aber er nahm es an. Schließlich waren sie Lebewesen. Und nach seiner Erfahrung hatte der Schöpfer die meisten Wesen so ähnlich wie möglich geschaffen.
Was sie nicht daran hinderte, einander immer wieder bis aufs Blut zu bekriegen, dachte er bitter.
Die Fehde zwischen den Leuten aus Greenbush und den Nez Perce war ebenso ein Beweis dafür wie der große Krieg zwischen Nord- und Südstaaten, der Amerika erschütterte und dessen gefährliche Auswirkungen die deutschen Auswanderer auch schon zu spüren bekommen hatten.
Wenigstens davon war hier in Oregon nichts zu spüren, wofür er dankbar war.
Jacob suchte Holz zusammen, das es hier reichlich gab, und zündete ein Feuer an. Er hatte zwar keinen Kaffee, und Riding Bears Trockennahrung brauchte er nicht zu erwärmen, aber die Kälte der Nacht steckte noch in seinen Knochen. Die Flammen halfen, sie zu vertreiben, während er lustlos auf den trockenen Bällen herumkaute.
Es wurde jetzt rasch heller, und er beeilte sich mit dem Frühstück. Er wollte den jungen Tag ausnutzen und möglichst schnell aufbrechen.