»Und das ist also die Mademoiselle, die besser auf den Schmuck der Damen aufpasst als die Damen selbst«, brach Magnus nun das Schweigen. Er schenkte Elin ein herzliches Lächeln. Ganz bewusst sah er ihr in die Augen und nicht auf ihre geschundene Wange.
»Schüchtern Sie mir das Mädchen nicht ein«, sagte Lovisa in gutmütigem Tadel. »Sie ist noch völlig verstört.«
Magnus lachte.
»Glaubt man Kristina, ist sie alles andere als schüchtern, wenn es darum geht, die Königin mitten auf dem Gang beiseite zu stoßen. Und jetzt wirft sie sich wild gewordenen Streitrössern in den Weg. Ich wage gar nicht daran zu denken, was sie als Nächstes tun wird.« Elins Herz schlug gegen das harte Segeltuch wie ein Trommelstock.
»Erzählst du mir, woher du kommst?«, fuhr Magnus fort.
»Gamla Uppsala.«
»Aus der Stadt der Königsgräber, so, so«, sagte Magnus. »Einst lebten dort die Svea-Könige. Warst du je auf den Hügeln?«
»Natürlich. Die … Kirche steht dort.«
»Sie ist schließlich kein Heidenkind«, warf Lovisa ein.
Elin zuckte zusammen. Magnus wandte sich seinem Gast zu. Ein ganzer Wirbel von fremden Worten faszinierte Elin gegen ihren Willen und sie versuchte angestrengt, den Sinn zu erahnen. Magnus malte mit den Händen ein Tempelgebäude in der Luft nach, ließ Rauch zum Himmel steigen. Sie hörte die Namen »Freya« und »Odin« heraus und wusste plötzlich, dass Magnus von dem heidnischen Tempel erzählte, der in Gamla Uppsala einst an der Stelle der rußgeschwärzten, roten Holzkirche gestanden hatte. Unter der Eibe, so hieß es, wurden dort früher Menschen und Tiere den Göttern geopfert. Noch heute schlichen sich abergläubische Menschen auf den Hügel und verschütteten in nördlicher Richtung hinter der Kirche eine Hand voll Hühnerblut. Das sollte ihnen Unversehrtheit bringen. Auch Emilia hatte das Blut zu den Gräbern der Svea-Könige getragen, aber ihrem Mann Elias hatte es nichts genützt.
Der Marquis schien nicht beeindruckt. Leise antwortete er mit wenigen Worten. Aus seinem Mund klang die fremde Sprache melodiöser als bei Magnus oder Lovisa. Dennoch war sich Elin sicher, dass er etwas Verächtliches gesagt hatte. Magnus nahm das Gespräch wieder auf und deutete auf Elin. Sie konnte nur erahnen, dass er den Grafen darauf aufmerksam machte, sich noch nicht bedankt zu haben. Der Marquis schoss einen unfreundlichen Blick zu ihr hinüber, doch statt sich ein Lächeln abzuringen und ein Wort des Dankes zu sagen, griff er stumm unter seinen Mantel. Münzen klirrten. Im Licht der Flämmchen leuchtete Metall auf – ein Riksdaler. Alle Gespräche in der Kutsche verstummten.
Lovisas Gesicht lief rot an, Elin kam es vor, als hätte sie dem jungen Grafen das Geld am liebsten aus der Hand geschlagen. Stattdessen nahm die Hofdame den Riksdaler und murmelte einige höfliche Worte. Elin schoss das Blut in die Wangen, aber Lovisa bedeutete ihr, den Mund zu halten. Magnus de la Gardie konnte kaum verbergen, dass er von der herablassenden Geste des Gastes peinlich berührt war. Den Marquis dagegen störte die plötzliche verlegene Stille offenbar überhaupt nicht. Er wandte sich ab und starrte weiter zum Fenster hinaus. Magnus lehnte sich zurück und strich sich über den blonden Bart. Im Schein der schwankenden Lichter wirkte er wie eine Statue, die zum Leben erwacht war.
Elin drückte sich, so tief sie konnte, in die gepolsterte Sitzlehne. Mit einem Mal wünschte sie sich zurück in ihre warme, überschaubare Küche. Die Kutsche war plötzlich viel zu klein für all diese Menschen. Emilia hatte Recht. Die Adligen und die Küchenmädchen lebten nicht in derselben Welt. Sie hätte lieber zusehen sollen, wie das Pferd ihn bis zum vereisten Ufer des Mälarsees schleifte! Und sie hatte nicht übel Lust, einen Schneeklumpen vom Boden der Kutsche aufzuheben und ihm damit den arroganten Ausdruck aus dem Gesicht zu reiben.
Im Winterlicht glich der Mälarsee einer mit Frost überzogenen Silberplatte. Fußabdrücke und Spuren von Schlittenkufen zeigten, wo Eisfischer und Reisende vor kurzem noch ihre Wege gesucht hatten. Elin lehnte sich erschöpft an die Kutschenwand. In den vergangenen zwei Tagen hatte sie sich mehr als einmal nach Emilias Strohlager zurückgesehnt, denn obwohl der Hofstaat in den Häusern auf der Strecke fürstlich bewirtet worden war, blieben für die Nacht nur enge Bettstätten, in denen sich die Mädchen und Frauen wie die Heringe in den Holzfässern der Fischverkäufer zusammendrängten. Das Mieder hatte Elins Achselhöhlen wund gescheuert, zu trinken gab es nur Bier – und zwar nicht das Dünnbier, an das sie gewöhnt war, sondern ein dunkles, dickflüssiges Getränk, das ihren Kopf schwer werden ließ und ihren Durst noch verschlimmerte. Längst war der französische Gast in den Schlitten der Königin umgestiegen und die Mädchen und Damen tratschten nun am liebsten über die Verschwendungssucht des Magnus de la Gardie, der seiner jungen Frau in Paris ein mit Perlen und Brillanten besticktes Kleid aus weißem Taft gekauft hatte. Für Wäsche und Leinen, eine Karosse und ein Gemälde hatte er tausende von Riksdalern ausgegeben. Elin versuchte sich diese Summe vorzustellen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Das Geschnatter der Mädchen ermüdete sie wie ein eintöniges Wiegenlied.
Am dritten Vormittag stieß Tilda Elin an der Schulter an. »Schau mal, wir sind gleich da«, sagte sie und deutete aus dem vereisten Schlittenfenster. »Da ist schon der Brunkeberg.«
Der Brunkeberg erwies sich als großer Hügel, auf dem ein Feuerturm stand. Auf einer vereisten, schnurgeraden Straße glitt der Schlitten in Richtung Hafen. Alle Straßen waren hier gerade gezogen und von erstaunlich vielen neu aussehenden Steingebäuden gesäumt.
»Vor ein paar Jahren hat es hier gebrannt«, erzählte Tilda. »Königin Kristina ließ die ganzen Holzhäuser abreißen und baut jetzt Paläste. Wir fahren gerade auf der neuen Königinstraße, der ›Drottninggatan‹!«
Lovisa lächelte und sah aus dem Fenster. An diesem Vormittag ließ eine eisige Wintersonne ihre faltige Haut schimmern. Elin lehnte sich so weit wie möglich nach vorne, um einen Blick auf die Stadt zu erhaschen.
Nach kurzer Zeit kam der Hafen in Sicht und dahinter, durch einen Graben von Eis getrennt – die Stadtinseln! Gesäumt von einem Ring von Schiffen, die über Winter an Land gezogen worden waren, lag Stockholm zwischen Mälarsee und Ostsee. Masten zeigten wie drohend erhobene Lanzen gen Himmel. Und direkt zwischen ihnen, so erschien es Elin, ragte der hohe Turm einer Kirche aus dem Häusergewirr hervor. Das Geräusch der Pferdehufe wechselte von einem knirschenden Trappeln zu dumpfen, tiefen Schlägen. Schlittenkufen trafen an einigen Stellen auf Holz, als der königliche Tross über die Brücke fuhr, die das Festland mit der zentralen Stadtinsel verband. Stockholm selbst war ganz anders als die Gegend am Brunkeberg. Zwar bestand die erste Häuserzeile direkt am Hafen aus prächtigen, palastartigen Gebäuden – dahinter jedoch, jenseits der großen Straßen, entdeckte Elin verwinkelte Gässchen und Märkte. Das war nicht die goldene Märchenstadt, von der Emilia erzählt hatte! Ganz gewöhnliches Ziegelwerk leuchtete, als wollte es die wenigen Stunden Licht in sich aufsaugen. Viele Häuser waren mit »Falurödfärg« gestrichen, der billigen roten Farbe aus den Kupferminen von Falun. Sogar Holzgebäude entdeckte Elin in der Königsstadt. Die Straßen waren noch schmutziger als in Uppsala, aber was Elin wirklich erschütterte, war die unüberschaubare Menge an Leuten. Noch nie hatte sie so viele Menschen gesehen – und noch dazu so viele, die fremdländische Kleidung trugen.