Während der Jultage sprach man an den Kaminfeuern viel über die Gespenster, die in dieser dunkelsten Zeit des Jahres um die Häuser der Menschen schlichen. Solange Elin mit den anderen am großen Kamin saß, konnte sie darüber lachen, aber sie vermied es, noch einmal in den nebligen, düsteren Garten zu blicken. Die Räume des Schlosses dufteten nach frisch geschnittenen Tannen- und Kiefernzweigen, die als Julschmuck aufgehängt worden waren. Wacholderzweige und Efeublätter lagen auf den Tischen. Elins Reitstunden fanden bei Fackelschein statt. Lovisa schien allerdings wild entschlossen, dem täglichen Reitunterricht etwas weniger Unzüchtiges entgegenzusetzen. Vor ihren religiösen Lektionen gab es kein Entkommen. Sie las Elin aus den Büchern Mose vor, ließ sie die Psalme Davids auswendig lernen und natürlich, wie es sich für jeden guten Gläubigen gehörte, nahm das Studium des lutherischen Katechismus kein Ende. Das, worauf sich Elin nach den religiösen Unterweisungen am meisten freute, waren die Fabeln des Äsop, die Lovisa ihr auf Französisch vorlas. Bald verstand sie mehr als nur ein paar Worte und es machte ihr diebischen Spaß, sich unwissend zu stellen und den anderen Damen beim Plaudern zuzuhören. Die schwindsüchtige Madame Joulain war noch schmaler geworden und strahlte mit ihren brennenden Augen und der blassen Haut inzwischen die morbide Schönheit einer Todesfee aus. Ununterbrochen beklagte sie sich über »die barbarische Kälte und die Menschen, die so steif und humorlos sind, dass sie an trockenes Holz erinnern«. Jeden Tag fragte sie Lovisa, wie lange es noch dauern würde, bis endlich das Eis im Hafen brechen würde. Elin fand den Gedanken, dass der junge Marquis dann mit dem nächsten Schiff davonsegeln würde, sehr beruhigend. Aus einigen Gesprächsfetzen hatte sie herausgehört, dass die französischen Gäste in Paris lebten, aber aus einem Landstrich stammten, der sich »Bretagne« nannte, und dort einen Erbschaftsstreit um Ländereien am Meer verloren hatten.
Königin Kristina strahlte in diesen Tagen hell wie die Sonne selbst. Ihr Lachen hallte durch die Räume, sie plauderte mit den Gästen und scheuchte Musiker, Schneider und die jungen Kavaliere von Magnus de la Gardie herum. Etwas war im Gange. Manchmal, wenn Elin durch die Flure lief, hörte sie rhythmisches Stampfen und eine fremde, haarfeine Musik, die wie ein melodisches Weinen klang. Hofdamen huschten mit Stoffbahnen über dem Arm vorbei. Was es damit auf sich hatte, verriet ihr Lovisa erst am Morgen des Julfestes.
»Heute Abend werden wir ein richtiges Ballett sehen!«, rief ihr die alte Hofdame zu. »Um Himmels willen, unsere übermütige Königin hat sogar versucht, mich altes Schlachtross auf den Tanzboden zu zerren! Ihr ist wirklich nichts heilig.«
»Was ist ein Ballett?«
»Nun, ein Tanz aus Frankreich – und ähnlich unsittlich wie das Reiten im Männersitz.« Ihren Worten zum Trotz blitzte die Vorfreude Lovisa nur so aus den Augen. »Im obersten Stock des Schlosses lässt Kristina ein Theater nach italienischem Vorbild bauen. Wenn es ganz fertig ist, wird es sogar Maschinen geben, die Donner und Blitz erzeugen können. Zum Julbankett heute hat Kristina auch die Mädchen und dich geladen. Mach mir ja keine Schande!«
Lovisa wollte sich jedoch nicht allein auf ihre Ermahnung verlassen und steckte Elin in ein züchtiges Kleid mit hochgeschlossener Chemise. Offensichtlich hoffte die Hofdame, ihr Zögling würde in diesem schlichten Gewand so gut wie unsichtbar werden. Elin ertappte sich dabei, wie sie am späten Nachmittag vor einem Spiegel stehen blieb und sich kritisch betrachtete. Sie sah aus wie eine junge Witwe, stellte sie fest. Aber immerhin wie eine lächelnde Witwe, die vor Aufregung rote Wangen hatte.
Die Pracht, die sie am Julabend zu sehen bekam, überstieg selbst die Bilder vom Hofleben, die Emilia ihr mit Worten in das Dunkel der Mägdekammer gemalt hatte. Der riesige Raum, den sie mit Lovisa und den anderen Mädchen durch eine Seitentür betrat, hätte selbst Emilias kühnste Fantasien übertroffen. Das Lüsterlicht warf ein Netz aus Lichtreflexen auf die gedeckte Tafel. Wie pflichtbewusste Soldaten warteten eckige Polsterstühle mit dunkelbraunen Lederbezügen auf die Gäste. An jedem Platz lag ein Silberteller und ein Besteck mit geschnitzten Elfenbeingriffen in Form von Fischen. Jede Schuppe war detailgetreu eingeritzt. Die zweizinkigen Gabeln sahen aus wie für Puppenhände angefertigte Bratspieße. Auf jedem Teller saß ein perfekt gefalteter Serviettenschwan, was Elin ein Lächeln entlockte. Helga Lundell hatte ganze Arbeit geleistet!
Der Festsaal brummte wie ein Bienenstock – Lakaien eilten durch den Raum und balancierten Silberplatten mit Wildbretpasteten und Brandküchlein. Elin war so überwältigt, dass es ihr nicht gelang, auch nur einen Bissen zu essen. Unter großem Applaus wurden mehrere Schwäne hereingetragen. Sie thronten wie lebendig geworden auf den großen Platten, die silbernen Seen glichen.
Musiker stellten sich am Ende von Kristinas Tafel auf und begannen auf Instrumenten zu spielen, die nur entfernt den Schlüsselfideln glichen, die Elin kannte. »Das ist eine Violine«, erklärte Lovisa. »Und der Mann, der die Hauptmelodie spielt, ist ein Komponist aus Italien.« Die Töne, die er seinem Instrument entlockte, klangen höher und reiner als jede Schlüsselfidel, deren Klänge Elin bisher gehört hatte. Bisweilen berührte Elin die Musik so sehr, dass sie glaubte weinen zu müssen. Der Duft von fremden Gewürzen erfüllte den Raum. Es gab Muscheln und Aal und einen gebratenen Kapaun, der vorwurfsvoll in die Runde starrte. Kerzen steckten in silbernen Leuchtern mit schwerem, achteckigem Fuß. Elin bewunderte das Pfefferschälchen und kostete das wertvolle Gewürz.
Der Pfeffer zerging noch auf ihrer Zunge, als ein Diener erschien und sie bat, an den Tisch der Königin zu kommen. Elin verschluckte sich vor Schreck. Der Pfeffer brannte wie Feuer in ihrer Nase. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Würde sie jetzt den Auftrag erhalten? Am Julabend?
»Denk daran, was ich dir beigebracht habe«, flüsterte Lovisa. »Antworte nur mit Ja oder Nein und nur dann, wenn du gefragt wirst. Und komm mir bloß nicht auf die Idee, mit den französischen Herrschaften zu sprechen!«
Am Tisch der Königin wurde viel gelacht, ausgelassene Spaße flogen hin und her. Die Diener umflatterten die Herrschaften und kamen kaum zur Ruhe. Noch nie war Elin die Königin so fremd erschienen wie heute. Sie strahlte mit den Leuchtern um die Wette, ihr Gesicht war weich und schön. Sie war ebenso galant und kokett wie die französische Gräfin. Elin wurde gegenüber von Madame Joulain platziert, neben einem freundlich aussehenden Herrn in besticktem Rock. Seine gerüschte Halsbinde mit Spitzensaum leuchtete sauber und duftend gepudert im Licht der Kerzen. Neben den Tellern lagen zusätzliche Löffel. Was Elin noch mehr erschütterte als die wundersame Vermehrung des Bestecks, waren die Franzosen. Sie waren alle am Tisch versammelt – Henri natürlich mit seinen Eltern, aber auch die Höflinge, die sie ausgelacht hatten. Schon stießen sich die ersten an, tuschelten und kicherten. Elin konnte Henris Gesicht zwischen den Spitzen der Schwanenflügel sehen. Heute wirkte er weniger lebhaft als sonst, sondern hatte etwas Düsteres, Melancholisches an sich. Elin war sehr wohl bewusst, dass der junge Adlige sie aus den Augenwinkeln genau beobachtete. Ein Diener legte ihr eine Eierspeise auf den Teller. Elin schnürte es die Kehle zu. In ihrer Panik sah sie sich unauffällig um – und fand Madame Joulains Blick. Die Hofdame schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln und zog die Brauen hoch. Mit einer unauffälligen Geste deutete sie auf einen Löffel aus Perlmutt. Henri grinste verächtlich. Elin war den Tränen nah. Trotzdem lauschte sie den Gesprächen. Schwedische Sätze vermischten sich zuweilen mit französischen Phrasen und Elin war sich nicht sicher, ob sie alles verstand. Dennoch erfuhr sie, dass der Mann mit dem hageren, freundlichen Gesicht neben ihr Herr Freinsheim hieß und die königliche Bibliothek verwaltete. Neben ihm saß der französische Botschafter Pierre-Hector Chanut. Bei Magnus de la Gar die saß ein beleibter junger Kriegsherr mit dunklem Haar und noch dunkleren Augen. Er beteiligte sich kaum an den Gesprächen und hatte sich seine Trinkkanne mit dem Silberdeckel schon zum dritten Mal füllen lassen. Seine Augen waren verschleiert vom vielen Wein, und er starrte die Königin an wie ein verdurstender Hund die Quelle. Offenbar gefiel es ihm nicht, dass Kristina in den höchsten Tönen von Ebba schwärmte, die ebenfalls am Tisch saß.