»Dahinten!«, schrie sie den Frauen zu. »Er wollte mich schänden! Haltet ihn auf!«
Als sie das Ende der Straße erreicht hatte, hörte sie hinter sich Gebrüll und Gezeter. Mistgabeln stießen mit einem trockenen Knall gegeneinander. Die Frauen schrien: »Schändung!« Elins Verfolger brüllten: »Mord!« Elin sprang in eine Seitenstraße, hetzte die Treppen einer schmalen Gasse hinauf und kletterte über eine Mauer. Mit einem schmerzhaften Satz landete sie in einem kleinen Hinterhof, in dem ein Holzstapel lag. Dahinter verkroch sie sich. Ihre Lungen fühlten sich an, als hätte sie eine Hand voll Nadeln verschluckt, und ihre Hände brannten höllisch. Erst jetzt sah sie, dass ihr die Zügel blutige Schürfwunden zugefügt hatten. Rufe und trappelnde Schritte ertönten. Elin drückte sich noch dichter an den Holzstoß.
»Hier ist sie nicht!«, rief eine Frau. »Das arme Ding! Sicher ist sie zum Hötorget gelaufen!« Elin kauerte sich zusammen und schloss die Augen. Der Schock ebbte nur langsam ab. Der Kurier ist auf dem Weg, wiederholte sie in Gedanken immer wieder wie ein beruhigendes Gebet. Es dauerte lange, bis sie es wagte, hinter dem Holzstapel hervorzukommen. Erst als die Dunkelheit sich längst wieder über die Stadt gelegt hatte, kroch sie völlig durchgefroren hervor und kletterte schwerfällig auf die Straße. Noch länger dauerte es, bis sie den Weg zum Schloss fand, immer auf der Hut, immer in der Erwartung, entdeckt und festgenommen zu werden. In weitem Bogen umrundete sie die Gegend um den Hötorget und huschte von Nische zu Nische bis zur Brücke. Das Schloss erschien ihr wie ein fremder Ort aus einem Märchen. Ihre Füße trugen sie kaum noch, als sie endlich die Anlegestelle erreichte. Ob Helga noch dort war? Eine neue Sorge flammte in ihr auf – was, wenn sie nicht mehr ins Schloss kam? In diesem Moment nahm sie den süßen Duft von Marzipan wahr. Sie drehte sich um und sank in Helgas Arme.
»Mein armes Mädchen!«, murmelte Helga immer wieder, während sie behutsam Elins Wunden reinigte. Elin saß zitternd am Tisch, an dem Helga noch vor wenigen Wochen den Schwan erschaffen hatte. »Lovisa stellt schon seit Stunden das halbe Schloss auf den Kopf, um dich zu finden«, flüsterte sie. »Ich habe gesagt, ich hätte dich das letzte Mal in den Vorratskellern gesehen. Oh, meine arme Kleine! Ich wünschte, mein Neffe wäre hier. Er studiert Medizin in Uppsala.«
»Es ist nicht schlimm«, murmelte Elin mit klappernden Zähnen. Sie fragte sich, wo der Kurier wohl heute übernachten würde. Waren ihm weitere Verfolger auf der Spur? Nur langsam ließ die Anspannung nach. Hier, in der Geschirrkammer, schlüpfte sie schließlich in ihr Mieder und den Rock, den sie gestern getragen hatte. Helga steckte ihr das Haar hoch und stäubte es mit Parfümpuder ein. Nach und nach verschwand Elin, das Bauernmädchen. Gerade war sie dabei, Handschuhe über ihre verwundeten Hände zu ziehen, als sie einen Schatten auf dem gefliesten Boden entdeckte. Mit einem Schrei sprang sie zur Seite. Im Bruchteil einer Sekunde sah sie einen ganzen Tag an sich vorbeiziehen – der Mann mit dem Federhut war ihr gefolgt und hatte sie gefunden! Ein Messer blitzte auf und Elin sank zu Tode getroffen auf die Fliesen. Doch der Schatten gehörte nur zu Lovisa.
In ihren Locken hing eine Spinnwebe. Obwohl sie sofort ein strenges Gesicht aufsetzte, konnte sie ihre Erleichterung kaum verbergen.
»Da bist du ja. Erschöpft siehst du aus. Mein Gott, Helga! Was habt ihr nur mit dem Mädchen gemacht?« Rasch verbarg Elin ihre Hände in den Falten des Rockes. Zufällig blieb ihr Blick dabei an einem blanken Silberteller hängen. Schemenhaft erkannte sie darin das Gesicht einer jungen Hofdame mit ängstlichen Augen. Auf der Straße war ihr Gesicht schmutzverklebt gewesen – und ihr Haar unter dem Tuch verborgen. Selbst wenn sie sich begegneten, würde der Verräter sie unmöglich wieder erkennen.
»Und?«, fragte Lovisa streng. »Bedankst du dich nicht, dass ich dich aus der Küche erlöst habe? Du glaubst nicht, wie sehr ich der Königin auf die Nerven fallen musste, bis sie ein Einsehen hatte.«
»Entschuldige«, erwiderte Elin gehorsam. »Ich danke dir. Du weißt gar nicht, wie sehr!«
Die alte Dame schenkte Elin ein strahlendes Lächeln. »Vielleicht wirst du ja in Zukunft auf mich hören. Und vergiss nicht, dich bei der Königin zu entschuldigen und dich auch bei ihr vielmals zu bedanken.« Elin lächelte müde. Wenn sich hier jemand bedanken würde, dann war es die Königin.
Der rote Handschuh
Das Jahr 1648 begann mit einem Wintersturm. Man wollte Unglückszeichen am Himmel gesehen haben und berief sich auf die düsteren Prophezeiungen von Sterndeutern. Blass und übernächtigt erschien die Königin morgens um fünf in ihrem Arbeitskabinett und brütete über ihren Dokumenten. Immer noch war keine Nachricht von Adler Salvius eingetroffen. Kristina trieb die Friedensverhandlungen unermüdlich voran. Sie hielt ihr Versprechen und schenkte Elin zum Dank für ihren Dienst eine hübsche Geldkassette aus Ebenholz und dazu zwanzig Riksdaler. Was Elin jedoch weit mehr freute als das Geld, das sie baldmöglichst Emilia schicken wollte, war die Befreiung von ihren Mädchendiensten und der Unterricht, den sie stattdessen erhielt. Jeden Morgen stand sie leise auf und schlich zur Waschschüssel, um die anderen Mädchen nicht zu wecken. Längst wunderten sich die Lakaien und Gardisten nicht mehr, wenn sie Elin vor der königlichen Bibliothek warten sahen. Um halb sechs Uhr morgens begann der Hauslehrer mit dem ersten Unterricht. Manchmal, wenn die Arbeit ihr eine Pause bot, kam sogar Kristina mitten am Tag in die Bibliothek, lauschte Elins Lektionen oder wies den Lehrer zurecht. Nach und nach entschlüsselte Elin das Mysterium der Schrift. Die Bücher verwandelten sich in Berge von Wissen, die sie allerdings nur mühsam Buchstabe für Buchstabe erklimmen konnte.
In ihren Träumen wurde Elin von dem Mann mit dem Federhut heimgesucht und aus dem Schlaf geschreckt. In diesen Stunden lauschte sie dem pfeifenden Atmen der anderen Mädchen und wagte nicht, zum Fenster zu gehen. Längst waren die Wunden an ihren Händen verheilt, doch der Gedanke an den Mann, der immer noch nicht gefunden worden war, jagte ihr Angst ein. Möglicherweise lebte er am Hof und stand in den Diensten eines Adligen. Verstohlen begann Elin damit, die Menschen im Schloss besonders aufmerksam zu beobachten. Oxenstierna mit seiner ruhigen Art und seinem brütenden Groll erschien ihr ebenso verdächtig wie die anderen Mitglieder des Rats – mit Ausnahme von Magnus und dem Reichsadmiral Karl Karlsson Gyllenhielm, die der Partei der Königstreuen angehörten.