»Elin. Was machst du nur für ein Gesicht! Komm her und gib mir deine Hand!« Alle Kraft war aus ihrer Stimme gewichen. Elin umfasste die kalte, feuchte Hand.
»Ich habe ein Geschenk für dich«, flüsterte Kristina. »Du findest es auf dem Tisch.« Elin drehte sich um und entdeckte ein schmales Buch. »Trost der Philosophie«, las sie auf dem Titel. Behutsam zog Kristina Elin zu sich hinunter, bis sie ihr ins Ohr flüstern konnte.
»Schlag es auf und suche zwei verbundene Seiten! Zwischen ihnen findest du einen Brief. Hebe ihn auf und verstecke ihn gut – und wenn ich sterben sollte, dann bringe ihn unverzüglich zu Karl Gustav. Hörst du? Zu keinem anderen!«
»Sie werden nicht sterben!«
Die Königin lächelte schwach.
»Ich habe es nicht vor, aber man muss stets für alle Fälle gerüstet sein.«
»Sie müssen den Mann finden, der Ihre Gemächer in Brand gesteckt hat.«
Kristinas Lachen ging in ein Husten über.
»Natürlich suchen wir ihn. Aber soll ich alle Männer, die einen Federhut tragen, verhaften lassen?«
»Nein«, antwortete Elin. »Aber er wird sich dort aufhalten, wo er glaubt, dass Sie sind.«
Kristina zog die Brauen zusammen.
»Ich höre«, sagte sie leise.
»Inzwischen weiß jeder im Schloss, dass in wenigen Tagen das Schlittenturnier für die Damen stattfindet und dass die Kavaliere am Mälarsee zur Jagd gehen werden. Lars sagte mir, Sie reiten immer auf der Jagd mit.«
»Diesmal nicht. Magnus und Karl Gustav werden meine Gäste begleiten.«
»Vielleicht wäre es klug, wenn Sie verlautbaren ließen, dass Sie doch an der Jagd teilnehmen. Dann könnte ich Ausschau nach ihm halten.«
»Wer sagt, dass du an der Jagd teilnehmen darfst!«, fuhr Kristina sie an. »Du kannst noch nicht gleichzeitig auf dein Pferd und auf die anderen Reiter achten. Wozu habe ich Gardisten und Vertraute?«
»Aber ich bin die Einzige, die dem Mann schon einmal begegnet ist. Auch wenn ich sein Gesicht nicht gesehen habe, würde ich ihn erkennen – da bin ich ganz sicher!«
»Meine Soldaten sind durchaus in der Lage, verdächtige Personen zu erkennen. Dazu brauche ich verdammt noch mal kein kleines Mädchen.«
»Aber …«
»Kein Aber! Du bleibst im Schloss.« Elin drängte die Tränen der Enttäuschung zurück. Die Königin schloss die Augen. Schweißperlen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet. Sie entzog Elin ihre Hand und krümmte sich zusammen.
»Sag meinem Diener, er soll Doktor van Wullen holen«, sagte sie nach einer Weile leise.
Der Leibarzt der Königin, der gleich darauf erschien, trug eine Perücke, die ihm bis über die Schultern fiel. Unter dem Arm hielt er einen lederbespannten rechteckigen Kasten. Mit schnellem Schritt ging er zum Bett der Königin und beugte sich über sie. Elin blieb neben der Tür stehen, das Buch mit dem kostbaren Brief an sich gepresst. Mit einem Murmeln antwortete die Königin dem Leibarzt auf seine Fragen.
»Schmerzen«, flüsterte sie. »Hier.« Van Wullen nickte.
»Wie immer das linke Hypochondrium«, sagte er streng. »Sie leiden an zu viel gelber Galle, die sich mit schwarzer Galle vermengt. Ihr Magen ist geschädigt. Und wenn ich mich nicht irre, sehe ich auch schon die Ursache, Majestät.« Mit diesen Worten beugte er sich über das Tischchen neben Kristinas Bett und hob einen weißen Krug hoch. Angewidert roch er daran und schüttelte den Kopf.
»Schon wieder Wasser, Majestät. Ich sagte Ihnen bereits, dass es Ihr Blut verdirbt. Mit ihm dringen schädliche Stoffe in Ihren Körper und verunreinigen die Körpersäfte. Haben Sie denn nicht den gepfefferten Branntwein getrunken, den ich Ihnen bringen ließ?«
Die Königin schüttelte den Kopf. Jetzt wurde van Wullen ernsthaft wütend. Mit einer akkuraten Bewegung klappte er den kleinen Kasten auf. Schimmernde Zangen, Nadeln und Skalpelle kamen zum Vorschein. Van Wullen suchte das Aderlassbesteck heraus.
»Das schlechte Blut muss abfließen.«
Von einem weiteren Tisch holte er eine Schüssel und entnahm dem Kästchen ein Lederband, das er der Königin um den Oberarm schlang. Behutsam schob er die Schüssel unter den Ellenbogen. Schlaff hing Kristinas Arm über den Bettrand nach unten. Mit einem routinierten Griff ertastete der Arzt eine Stelle in der Armbeuge. Die Lider der Königin zuckten nicht einmal, als das Skalpell in ihre Haut fuhr. Blut begann zu fließen und sammelte sich in der Schale.
»Sie sollten keinen Besuch mehr empfangen«, sagte der Arzt. »Es strengt Sie zu sehr an. Auch so wird es lange dauern, bis Sie sich erholt haben.«
»Sie irren sich«, antwortete Kristina mit geschlossenen Augen. »Ich werde an der Jagd teilnehmen!«
Im Innenhof des Schlosses ging es zu wie auf einem Marktplatz. Mit offenem Mund betrachtete Elin den prachtvollen Schlitten der Familie Oxenstierna. Der Reichskanzler und sein Vetter, der Schatzkanzler Gabriel Oxenstierna, waren in altehrwürdigem Ornat erschienen und boten ihren Damen die Plätze in zwei mit rotem Leder bespannten Schlitten an. Adelsherren aus dem Reichsrat waren mit ihren Töchtern und Frauen ebenso vertreten wie deren Söhne auf Streitrössern, die nicht minder jung und aufbrausend waren wie ihre Herren.
Die halbe Nacht lang war Elin immer und immer wieder ihren Plan durchgegangen, doch immer noch schnürte die Angst ihr die Kehle zu. Der Reitmantel einer Hofdame, den sie ohne Lovisas Erlaubnis aus einer der Kleidertruhen entwendet hatte, zog schwer an ihren Schultern. Hoffentlich hatte sie an alles gedacht! Freinsheim glaubte, sie müsse Lovisa helfen, Lovisa hatte sie gesagt, sie sei in der Bibliothek, und Fräulein Ebba, die heute bei der Königin blieb, hatte sie weisgemacht, sie halte sich bei Helga auf. Und Helga würde sagen, Elin sei morgens in der Küche gewesen, wenn jemand fragen würde. Jetzt durfte nur Lars sie nicht entdecken! Verstohlen zog Elin den Hut tiefer in die Stirn. Ihr helles Haar war gut verborgen, ein Tuch aus dunkler Seide ließ es noch weniger auffallen.
Hufgeklapper brach sich an den hohen Wänden. Endlich entdeckte sie einen von den Reitknechten und winkte ihn heran.
»Wo bleibt das Pferd?«, rief sie ihm zu. »Die Königin wartet!«
Der Bursche erschrak. »Die Königin? Aber reitet sie denn nicht ihren Ardenner?«
Elin musste sich überwinden, ihrer Stimme einen scharfen Klang zu geben.
»Seht ihr ihn hier irgendwo? Nein, sie hat Graf Magnus ausdrücklich um Enhörning gebeten. Also?«
Würdevoll richtete sie sich auf. Der Reitknecht runzelte die Stirn. »Gut«, sprach sie in gereiztem Ton. »Nenne mir deinen Namen, damit ich weiß, was ich Reitmeister Lars Melkebron sage, wenn er fragt, warum er Enhörning persönlich satteln muss.«
Es war beinahe zum Lachen, wie gut ihre Täuschung funktionierte. Der Bedienstete wurde knallrot.
»Ich hole das Pferd«, stammelte er.
»Beeile dich!«, rief sie ihm hinterher. »Und nimm den Männersattel!«
Rasch trat sie in den Schatten eines Arkadengangs zurück und wartete. Ihr Mund war trocken vor Aufregung, aber sie erwiderte das Lächeln eines jungen Adligen, der sie wohlwollend musterte. Gleich darauf warf sie ihm einen zweiten verstohlenen Blick zu. Nein, er war sicher nicht der Mann mit dem Federhut. Wenn nur niemand sie erkannte, bis sie das Schloss verlassen hatte! Um sich die Zeit zu vertreiben, betrachtete sie die Schlitten. Über vierzig waren es – schmale, bunt bemalte Holzschlitten, vor die je ein Pferd gespannt war. In den meisten Gefährten fand nur eine Person Platz. Hölzerne Meerespferde, aber auch geschnitzte Schwäne, Meerjungfrauen und Hirsche schmückten die Schlitten. An den Seiten waren die Wappen der schwedischen Adelshäuser aufgemalt. Die Gesellschaft, die sich im Hof versammelt hatte, war nicht weniger bunt. Graf Per Brahe, der Hofmarschall, hatte ein weißes Pferd vor seinen Schlitten gespannt und trug passend dazu einen mit weißem Pelz verbrämten Mantel. Zobelpelz und Fuchsfell glänzten im Fackelschein. Endlich wurden auch die Reitpferde der Damen in den Hof geführt. Es waren nicht viele Damen, die reitend an der Jagd teilnehmen würden. Elin zerknüllte vor Aufregung ihre Handschuhe. Endlich – da war ihr Pferd! Enhörning reckte den Hals und spitzte die Ohren. Der Reitknecht, der ihn führte, war völlig außer Atem. Im vorderen Teil des Hofes knallten die ersten Peitschen, Schlitten setzten sich in Bewegung. Als der Festzug den Hof verließ und zum Westtor fuhr, erhoben sich hinter den Fensterscheiben unzählige Arme und winkten dem Tross hinterher. Elin eilte zu dem Reitknecht und griff nach Enhörnings Zügeln.