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»Mademoiselle? Mademoiselle!« Die bange, bebende Stimme kam aus weiter Ferne. War sie in der Bibliothek? Nein, an ihrer Lippe klebte bitterer Schnee. Benommen blinzelte sie und blickte – in ein verängstigtes Gesicht. Der junge Mann hatte eine fein geformte Nase und eine schön geschwungene Oberlippe. Sein eisiger Atem zerschellte an ihrer Wange. »Das wollte ich nicht!«, flüsterte er ihr zu. »Es tut mir so Leid!« Unendlich behutsam strich ihr eine sanfte Hand über die Wange – eine Berührung, die sie lächeln ließ. Erleichterung erhellte das Gesicht. Erst jetzt fiel Elin wieder ein, woher sie den Jungen kannte. Es war Henri. Seltsamerweise fiel ihr kein schnippischer Satz ein – und auch die Wut war verschwunden. Henris Reittier stand nicht weit von ihr, der Zügel schleifte im Schnee. Enhörning war fort.

»Es … geht schon«, erwiderte sie. Das war gelogen. Ihr linker Arm fühlte sich seltsam taub an. Hufschlag ertönte, dann entsetzte Schreie. Die Schnauze eines Jagdhunds fuhr ihr über die rechte Hand. Sie blinzelte und ließ es zu, dass ihr für einige Sekunden die Wirklichkeit entglitt. Von fern hörte sie scharfe Streitworte, die sie nicht verstand. Als sie wieder mühsam in die Welt des Schnees zurückfand, stellte sie verwundert fest, dass es der alte Vaincourt und Henri waren, die sich gerade stritten.

»Lassen Sie mich in Ruhe, Vater! Gehen Sie zur Seite! Sie sehen doch, dass ich ihr helfen muss!« Mit einer Behutsamkeit, die Elin ihm nie zugetraut hätte, legte Henri den Arm um sie und bettete ihren Kopf an seine Schulter. Sie wollte protestieren, stattdessen rutschte ihr Kopf kraftlos zur Seite. Die Brokatborte kratzte an ihrer Braue. Ein vergoldeter Knopf klickte gegen ihren Eckzahn. Plötzlich hielt Henri abrupt in der Bewegung inne. An ihrer Wange spürte sie, wie schnell sein Herz schlug.

»Was … ist?«, flüsterte sie. Langsam zog er die Hand unter ihrer Schulter hervor. Blut bedeckte seine Finger. Ein roter, glänzender Handschuh – nur der kleine Finger war nicht in Elins Blut getaucht. Schlagartig wurde ihr übel. Sie musste den Kopf abwenden. Doch das, was sie stattdessen sah, war noch viel schlimmer: Im Schnee lag der zerbrochene Pfeil einer Armbrust. Rasch blickte sie weg – und fand Henris Augen. In diesem Moment, der eine Ewigkeit dauerte, machte die Angst sie beide völlig gleich. Sie waren nicht mehr Graf und Scheuermagd, sondern nur Henri und Elin. Doch dann kam der Schmerz und Elin stöhnte auf. Henri schrie nach den Gardisten und zerrte sich den Mantel von den Schultern. Mit flinken Händen ballte er den Stoff zu einem Bündel und drückte ihn gegen die Wunde. »Haben Sie keine Angst, Mademoiselle.« Trotz der tödlichen Kälte, die sich von der Wunde her ausbreitete, klammerte sie sich an der Wirklichkeit fest und versuchte, nicht wieder das Bewusstsein zu verlieren. Ein Gardist beugte sich über sie.

»Der Attentäter!«, flüsterte sie ihm zu. »Sucht den Mörder! Er hat an der rechten Hand nur vier Finger!«

Als Elin das nächste Mal die Augen aufschlug, war es nicht mehr Henris Hand, die sie umklammert hielt, sondern Kristinas. Es musste viel Zeit vergangen sein, denn die Königin sah wieder gesund und kräftig aus.

»Wir haben ihn, Elin«, sagte sie leise. »Meine Gardisten haben ihn noch am selben Tag gefunden. Und seinen Auftraggeber auch. Wie wir vermutet haben, war es ein Adliger aus dem Schloss, der mit meiner Politik nicht einverstanden ist – zumindest gehörte er weder zum Rat, noch saß er im Reichstag.«

Elin versuchte zu nicken, aber es wollte ihr nicht gelingen. Die verbundene Wunde an ihrem Rücken pochte dumpf.

»Er lag am Rand des Reitwegs auf der Lauer. Du hast Glück gehabt, dass Enhörning dich abgeworfen hat. Sonst hätte dich der Pfeil direkt ins Herz getroffen.« Die Königin musste sich über Elin beugen, um ihr Flüstern zu verstehen.

»Warum … hat er auf mich geschossen? Hat er mich wieder erkannt?«

»Nicht dich – mich!«, sagte Kristina. »Er wusste, dass die Königin am Ausritt teilnehmen wollte. Dann sah er eine Dame, die im Männersitz auf einem Streitross reitet – mit Federhut. Er dachte, du wärest ich. Nun, du siehst, dass Soldaten- und Königskinder oft das gleiche Schicksal teilen.«

Sie lachte verschmitzt und beugte sich noch weiter zu Elin. »Ab heute sind wir Schwestern! Und wer seine königliche Schwester mit dem eigenen Leib schützt, hat natürlich einen Wunsch frei.«

»Den Wunsch hebe ich mir auf, Majestät«, flüsterte Elin.

»Nicht Majestät«, sagte die Königin. »Wenn wir allein sind, bin ich Kristina.« Mit einem Lächeln setzte sie hinzu: »Trotzdem wirst du der Strafe für deinen Ungehorsam nicht entgehen.«

Suchend sah Elin sich um. Seltsam, die Tür nahm sie nur verschwommen wahr.

»Monsieur Henri?«, fragte sie. »Kann ich … ihn sehen?«

»Später vielleicht. Er lässt dir Grüße bestellen und wünscht dir gute Genesung.«

Die Wunde entzündete sich. Die Tage wurden zu einer endlosen Abfolge von wirren, schmerzdurchleuchteten Träumen. Die Gesichter an ihrem Bett wechselten wie Tänzer bei einem Menuett: Lovisa, Ebba, Doktor van Wullen und Kristina. Einmal bildete sie sich sogar ein, Madame Joulain und die Gräfin zu sehen. Manchmal, wenn Elin die Augen aufschlug, war es Tag, einen Wimpernschlag später Nacht und die Frau mit dem weißblonden Haar beugte sich über ihr Bett. Die leeren Augen eines Totenkopfs sahen Elin an – doch sie war zu schwach, um zu schreien. Sorgsame Hände wischten ihr mit nach Lavendel duftenden Tüchern den Fieberschweiß ab. Immer wieder sah sie Henri – den anderen Henri. In ihren Träumen war er nicht hochmütig, sondern strich ihr sanft über die Wange. »Keine Angst, Mademoiselle«, flüsterte er.

»Mademoiselle Schneefee!« Die Stimme gehörte nicht Emilia. Aber Emilia war es, die neben ihr lag, nach Luft schnappend und die Hand auf ihr Herz gelegt. Doch als Elin nach ihrem Arm tastete, um sie zu trösten, fühlte sich ihre Haut kalt und rau wie ein klammes Laken an. Mühsam kämpfte sich Elin ins Bewusstsein zurück und blinzelte benommen ins Tageslicht. Die Gleichgültigkeit, die wie eine Decke aus Ziegelsteinen auf ihr gelastet hatte, war von ihr gewichen. Sie schlug die Augen auf, doch statt Henri, den sie erwartet hatte, saß Hampus an ihrem Bett. Der Student schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

»Guten Morgen! Du bist es ja doch. Ohne einen Eimer in der Hand hätte ich dich beinahe nicht erkannt. Muss ich jetzt ›Sie‹ zu dir sagen?«

»Hampus«, flüsterte sie. »Was machst du im Schlafgemach einer Frau?«

»Studieren. Bei Doktor van Wullen. Aber auch wenn er mich nicht an dein Bett gelassen hätte, wäre ich hier – meine Tante, Helga, hat mir alles Mögliche angedroht, wenn wir dich nicht wieder gesund machen. Spürst du deinen Arm? Versuche ihn zu heben, geht es?«

Es tat weh, den Arm zu bewegen und der Ellenbogen war steif, aber Elin nickte matt.

»Ich muss aufstehen«, flüsterte sie. »Emilia … Sie stirbt! Ich muss …«

»Langsam, Elin. Du musst gar nichts.«

»Hampus – du musst mir helfen! Wenn du wieder in Uppsala bist, geh bitte zu Emilia!«

»Ach, du meinst diese finnische Magd mit den roten Haaren? Als ich vor zehn Tagen aus Uppsala abgereist bin, habe ich Sie am Hofbrunnen gesehen. Sie sah nicht so aus, als würde sie bald vor den Herrn treten.« Erleichtert schlief Elin wieder ein.

Es musste Tage später sein, als sie sich das erste Mal aufsetzte. Besorgt beobachtete Fräulein Ebba, wie Lovisa Elin unbarmherzig in eine sitzende Position schob und ihr half, die Beine aus dem Bett zu heben. Kristina stand mit verschränkten Armen neben der Tür.

»Was denn, so schwach?«, spottete sie und lächelte verschmitzt. »Ich habe die Köpfe der Verräter im Schlosshof aufspießen lassen, willst du sie nicht sehen?«

»Regen Sie das Mädchen nicht mit solchen Schauergeschichten auf, Majestät«, tadelte Lovisa die Königin.