Seit Elin mit Kristinas Unterstützung in Deutschland nach Informationen über ihre Eltern forschen ließ, hielt sie sich in der Hoffnung auf Postsendungen oft am Hafen Skeppsbron und bei der Schleuse zur Südstadt auf. Gemeinsam mit Hampus passierte sie die Landungsstege, die unzähligen Bootshäuser und atmete den Duft von gerösteten Heringen ein. Die verschiedensten Güter wurden von den Mälarschiffen auf die Ostseeschiffe umgeladen – und umgekehrt. Durch Kristinas Verhandlungen und neue Zollverordnungen, die im Reichstag beschlossen worden waren, bekam der Überseehandel Aufwind. In allen möglichen Sprachen wurden Geschäfte abgeschlossen, Elin hörte Verhandlungen auf Dänisch, Flämisch und auch viele französische Sätze. Einmal vernahm sie eine sanfte Stimme und drehte sich überrascht um. Aber es war nicht Henri.
Immer wieder schwemmte die Ostsee Kriegsheimkehrer aus Deutschland an – abgerissene, vom Krieg gezeichnete Männer, nach Pfeifentabak und Schweiß riechend, viele von ihnen Krüppel mit ausdruckslosen Augen, die nichts so sehr herbeisehnten wie ein langweiliges, ruhiges Leben in ihrer Kate. Elin ertappte sich dabei, wie sie die Gesichter dieser Männer eingehend studierte – und sich vorstellte, ob ihr Vater ebenso ausgesehen hatte.
»Woran denkst du?«, flüsterte Hampus ihr zu, als sie zu einem Schiff aus Deutschland unterwegs waren. »Gefällt dir etwa dieser schwarzhaarige Soldat, den du so anstarrst?« Elin gab Hampus einen Stoß in die Seite. Sie ärgerte sich, dass sie errötete, denn nun hatte der Soldat das Gespräch bemerkt und schenkte ihr ein überraschtes, hoffnungsvolles Lächeln.
Mit Elin und Hampus strömten unzählige Menschen zum Hafen. Das riesige Transportschiff hatte die Rahsegel auf Halbmast gesetzt und lief langsam auf die Anlegestelle zu. Möwenschreie hallten über das Wasser. Trauben von Menschen hatten sich an der Reling versammelt und winkten den am Ufer Stehenden zu. Kaufleute warteten auf ihre bestellte Ware, Arbeiter standen bereit, die Güter auf die Mälarboote umzuladen. Die ersten Listen wurden gezückt. Hampus zog Elin näher zu sich heran und bahnte mit seiner Schulter einen Weg durch die Menge.
»Das ist doch Monsieur Chanut!«, rief er. »Monsieur Chanut!«
Auf seinen Ruf hin drehte sich der französische Botschafter um. Elin freute sich, den liebenswürdigen Herrn zu sehen. Kristina lud den Diplomaten oft ins Schloss ein, und sogar Axel Oxenstierna schätzte ihn. Neben ihm stand Pater Villon, der Hauskaplan der französischen Botschaft, ein ruhiger Mann mit Pockennarben im Gesicht. Chanut lächelte und winkte Hampus zu sich heran.
»Ah, der junge Freund von Descartes!« Galant nahm er Elins Hand und deutete eine Verbeugung zu einem Handkuss an. »Und Mademoiselle Elin, welch ein Zufall.«
»Suchen Sie jemanden?«, fragte Hampus.
Chanut blickte über seinen Kopf hinweg zur Reling und sein Gesicht hellte sich auf. »Und da habe ich ihn auch schon gefunden! Monsieur Tervué. Die Königin wird ihn noch heute empfangen.«
Die Passagiere verließen nun über Holzplanken das Schiff. Der Mann, der Chanut zugewunken hatte, war beleibt. Seine Wangen zitterten bei jedem Schritt. Elin war verwirrt. Warum hatte Kristina ihr nichts davon gesagt, dass sie Besuch aus Frankreich erwartete? Noch dazu von einem Katholiken! Ob er zu den Gelehrten gehörte, die Kristina aus aller Welt zu sich lud, um die Wissenschaften im Schloss zu etablieren? Der Kaplan und Chanut begrüßten Tervué und auch Elin und Hampus wurden kurz vorgestellt. So freundlich das Lächeln des Gastes war, so kritisch war der Blick, mit dem er Elin musterte – ihr Haar, ihr Dekolletee und den Abstand zwischen ihr und Hampus, der ihm offenbar als zu gering erschien. Seine Augen waren von einem kalten Grün.
»Ich freue mich darauf, noch heute die gelehrteste Frau Schwedens und vielleicht sogar Europas kennen zu lernen«, sagte er zu Chanut. »Man sagt, sie habe alles gelesen.«
»Und dennoch wird sie Sie überraschen«, erwiderte Chanut launig. »Nichts, was man sich über sie erzählt, wird ihr nur annähernd gerecht.«
Mit gemischten Gefühlen betrachtete Elin die Kutsche, in die die drei Männer einstiegen.
»Da drüben kommen die Postsäcke und die Unterhändler!«, rief Hampus. Gemeinsam kämpften sie sich den Weg zu den beiden Männern frei, die gerade an Land gingen, kaum beachtet von den Kaufleuten.
»Nachrichten für das Schloss?«, rief Elin dem älteren der beiden Händler zu. »Es muss ein Brief für Elin Asenban dabei sein!« Der Mann warf einen Blick auf die Gardisten, die unweit von Elin Position bezogen hatten, dann öffnete er den Reisebeutel, den er über der Schulter trug. Papier knisterte, dann, nach einer Ewigkeit, zog er endlich einen Packen an Briefen heraus und ging sie durch. Elin konnte sich nicht beherrschen und spähte über seine Schulter. Da waren ein Schreiben von Rene Descartes an die Königin, mehrere Briefe von anderen Stellen – und schließlich ein Schreiben, auf dem als Empfänger Elin Asenban vermerkt war! Beinahe hätte sie den Brief fallen lassen, aber es gelang ihr, ihn höflich entgegenzunehmen und in ihren Ärmel zu schieben. Dann drehte sie sich um und lief zurück zu Enhörning und zu Hampus’ Pferd. Ihr Streitross zerrte ungeduldig am Zügel, den der Gardist hielt. Längst verwunderte es kaum jemanden am Hafen, Elin in ihren Männersattel steigen zu sehen. Hampus erregte viel mehr Aufmerksamkeit, als sein Pferd vor einem Kalb scheute, das sich losgerissen hatte, und beinahe ein Heringsfass umwarf.
Wenig später passierten Elin und Hampus die Kutsche von Monsieur Chanut. Aus den Augenwinkeln sah Elin ein rundes Gesicht am Kutschenfenster und als sie sich noch einmal umdrehte, erkannte sie Monsieur Tervué, der empört und fassungslos betrachtete, wie sie im Männersitz an der Kutsche vorbeiritt.
In schnellem Trab ließen Elin und Hampus die Gassen hinter sich und ritten auf den Brunkeberg hinauf, bis sie fast nur noch grünes Land sahen. Als die ersten Windmühlen und der Feuerturm in Sicht kamen, zügelte Elin Enhörning und sprang ab, bevor das Pferd zum Stehen kam. Der Brief in ihrer Hand fühlte sich heiß an. »Mach ihn auf«, sagte Hampus leise. Gemeinsam setzten sie sich ins Gras und blickten auf das Dokument. Schließlich nahm sich Elin ein Herz und brach das Siegel. Heute schienen die Worte vor ihr zu fliehen. Sie konnte sich kaum einen Reim machen auf die Buchstaben, die irgendwo, weit weg in Deutschland, ein Botschafter auf das Papier geschrieben hatte.
»… konnten keinen Namen und keinerlei Auskunft bekommen«, las Hampus fast flüsternd vor. Elin blinzelte und reckte das Kinn in die Höhe. Mit zusammengepressten Lippen blickte sie aufs Wasser. Sie würde nicht weinen. Nicht heute. An diesem Tag war der Himmel so klar, dass man von hier oben sogar die Schären sehen konnte – Lovisa hatte ihr erzählt, dass es tausende solcher Inseln gab, manche nur wenige Bootslängen voneinander entfernt, felsig und nackt oder mit kleinen Wäldchen, ein zerklüfteter Archipel. Es war aussichtslos, sie zu zählen, aber immer noch einfacher als die Aufgabe, eine fremde Frau mit weißblondem Haar zu finden, die irgendwann, vor sechzehn Jahren, am Rand eines Schlachtfelds das Kind eines schwedischen Soldaten zur Welt gebracht hatte.
»Du wirst sie finden«, sagte Hampus leise. »Wenn der Krieg erst vorbei ist, wirst du reisen und dir selbst ein Bild machen können. So viele Aufzeichnungen sind im Krieg zerstört worden. Unzählige Kirchen haben gebrannt …«
»Ich weiß.« Elins Antwort klang schärfer, als sie beabsichtigt hatte, aber diesmal war Hampus nicht gekränkt. Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie zu sich heran.
»Du bist nicht allein, Elin«, murmelte er. »Du hast Kristina, du hast Lovisa und Herrn Freinsheim – und du hast mich.«
»Dich? Du fährst doch demnächst für mehrere Wochen nach Uppsala zur Akademie.« Sie starrte das Gras zu ihren Füßen an. »Hampus … würdest du mir einen Gefallen tun?«