»Während Sie hier Konfekt speisen und Wein trinken, sind die Menschen in den deutschen Städten gezwungen, Gras zu essen«, sagte sie schließlich. »Man sagt, in Zweibrücken habe eine Mutter sogar ihren Säugling gekocht und gegessen. Und wenn Sie mich fragen, Madame, glaube ich das sofort.« Elin verschluckte sich bei diesen Worten und musste husten. Mit einem Mal schmeckte das duftende Forellenfleisch nach bitterem Gift.
»Solche geschmacklosen Äußerungen kenne ich von dir zur Genüge«, seufzte Maria Eleonora pikiert. »Nun, so zerschlägt sich die Hoffnung, dass sich zumindest diese Unart gebessert hätte.«
»Das sind Geschichten, die der Krieg erfindet, nicht ich«, gab Kristina kühl zurück.
»Mein liebes Kind, gibt es etwas Langweiligeres als das Gerede über Krieg?«
»Nun, es ist meine Aufgabe, darüber zu reden. Ich arbeite hart daran, endlich den Frieden zu verhandeln, nachdem sich Schweden seit bald zwanzig Jahren an diesem unseligen Krieg beteiligt.«
»Dieser Krieg ist schon deshalb eine Schande, da er meiner Tochter die Zeit stiehlt, sich die Haare anständig zu frisieren.« Fassungslos starrte Elin die Königinmutter an. Maria Eleonora bemerkte ihren Blick und lächelte. »Wenn du klug wärst, würdest du dich mit weniger hübschen Mädchen umgeben, meine Tochter. Vielleicht würdest du dann ein wenig aparter erscheinen.« Sie tupfte sich mit ihrer Serviette die Mundwinkel ab. Elin musste sich beherrschen, um nicht an Kristinas Stelle zu antworten. »Sieh dich nur an, mein Kind«, fuhr Maria Eleonora fort. »Dein Gesicht ist von der Sonne verbrannt – du siehst aus wie ein Bauernmädchen!«
»Da Sie als meine Mutter behaupten, so arm wie ein Bauer leben zu müssen, ist das doch nur passend«, sagte Kristina trotzig.
Maria Eleonora warf die Serviette hin. Ihr wollüstiger Mund verzog sich vor Empörung. »Meine eigene Tochter verfolgt mich mit Spott! Gerade du solltest verstehen, dass mir an meinem Wohl nicht gelegen ist. Aber deinem Vater und meinem verstorbenen Gatten bin ich es schuldig, ein Leben zu führen, das meinem Stand entspricht!«
»Also mit Affen und Zwergen und Gauklern«, spottete Kristina.
»Von deinen dreißigtausend Talern kann ich kaum meine Zofen bezahlen!«, jammerte Maria Eleonora. »Von meinen Coiffeuren ganz zu schweigen!« Ihre Stimme kippte ins Hysterische. »Schweden ist es mir schuldig! Und du bist mir Hochachtung und alle Liebe der Welt schuldig!« Elin duckte sich, als die Königinmutter sie um Zustimmung heischend am Arm packte. »Ist es nicht so, Kind?«, rief sie melodramatisch.
»Du begegnest deiner Mutter sicher mit mehr Dankbarkeit. Aus welchem Hause stammst du?«
Elin hatte genug. Die Enttäuschung über diese Mutter, die keine war, wich einer unbändigen Wut.
»Aus keinem«, erwiderte sie. »Zwar bin ich nicht so braun gebrannt wie die Bauernkinder, trotzdem kann ich besser Kühe melken als die meisten von ihnen. Ich bin das Kind eines Soldaten.«
Doch so einfach war Maria Eleonora nicht zu schockieren. Zwar ließ sie Elins Arm los, als hätte sie ein Stück Dung berührt, dann aber huschte ein hochmütiges Lächeln über das geschminkte Gesicht.
»So, und da sage noch einer, wir seien uns nicht ähnlich«, meinte sie zu Kristina. »Ich halte mir zum Vergnügen Affen, du dir dagegen Bauernmädchen. Dennoch bezweifle ich, dass der Unterhaltungswert bei ihr höher ist.« Mit einer gezierten Geste wandte sie sich an ihre Lakaien. »Als Nächstes wird meine Tochter wohl einen einbeinigen Soldaten anschleppen, der zotige Lieder singt.« Die Diener sahen sich irritiert an, unsicher, ob sie über den geschmacklosen Witz ihrer Herrin lachen sollten oder nicht.
»Kaum anzunehmen«, erwiderte Kristina tonlos. »Ein einbeiniger Soldat nützt auf der Ballettbühne wenig, Madame.« Elin wunderte sich in diesem Moment am meisten über sich selbst. Sie war völlig ruhig. Maria Eleonoras Beleidigungen trafen sie nicht, im Gegenteiclass="underline" Sie musste ein spöttisches Lächeln unterdrücken. Überrascht fühlte sie jedoch, wie Kristina unter dem Tisch nach ihrer Hand griff und sie tröstend drückte.
»Entschuldigen Sie uns nun«, sagte Kristina höflich. Elin erhob sich gleichzeitig mit der Königin. »Wir sollten uns auf den Weg machen. Ich habe Anweisung gegeben, Sie auf Tre Kronor mit einem Festbankett zu begrüßen.«
Erst an Bord ihres eigenen Schiffes brach die Königin ihr Schweigen. Sie stand an der Reling und klammerte sich so fest an das Holz, dass ihre Finger ganz weiß wurden. Ihre Sonnenbräune war einer kränklichen Blässe gewichen und ihre Augen glänzten. Elin trat zu ihr.
»Nehmen Sie es sich nicht zu Herzen, Kristina«, sagte sie sanft. »Sie hat nicht Sie oder mich beleidigt – nur sich selbst. Das sagen Sie mir doch immer.«
»Verdammt, ich hätte auf Oxenstierna hören sollen, statt mir Hoffnungen zu machen«, zischte Kristina. »Eine sentimentale Idiotin bin ich!«
Die Begrüßung Maria Eleonoras im Schloss fiel sehr verhalten aus. Man starrte ihren Hofstaat an – die Narren und Zwerge, die bunt gekleideten Tierführer, die die langhaarigen Rassehunde ins Schloss führten. Lakaien trugen die Papageien durch die zugigen Gänge. Der Affe entfloh und biss mehrere Bedienstete, bis er endlich wieder eingefangen wurde. Axel Oxenstierna blieb dem Bankett demonstrativ fern. Zum ersten Mal verspürte Elin dem Kanzler gegenüber so etwas wie Sympathie oder doch zumindest großen Respekt vor seiner Charakterstärke. Elin selbst flüchtete sich in ihr Gemach, wo schon ein Brief von Hampus sie erwartete. Mit fahrigen Fingern nahm sie das versiegelte Schriftstück an sich und warf sich auf ihr Bett. Die Vorhänge zog sie zu und saß somit abgeschlossen von der Welt auf einer einsamen Insel aus Stoff. Sie atmete tief durch, öffnete behutsam den Brief und las.
Meine liebe Elin,
sicher wartest Du schon auf gute Nachricht – und wie gerne würde ich sie Dir schicken. Emilia habe ich nicht angetroffen – aber das Geld und den Brief Erik gegeben. Er wird dafür sorgen, dass sie alles bekommt. Leider haben wir nichts herausgefunden. Die Gudmunds wissen tatsächlich nichts über Dich. Mein Freund Erik hat seine Verbindungen genutzt und in alle amtlichen Papiere Einsicht genommen, die die Familie Asenban betreffen, aber selbst dort fand sich nichts. Einige Unterlagen sind zudem bei einem Brand im Pfarrhaus vor dreizehn Jahren vernichtet worden. Somit ist dieser Teil Deiner Familiengeschichte leider ausgelöscht. Ich bedauere unendlich, dass ich Dir keine besseren Neuigkeiten bringen kann, und hoffe, Du kannst es mir verzeihen. Ich werde alles tun, um Dich in Deinem Kummer zu trösten. Am Samstag kehre ich zurück. Bis dahin verbleibe ich als Dein treuer, Dir von ganzem Herzen ergebener Freund Hampus
Elin ließ den Brief sinken, zog die Beine an den Körper und legte den Kopf auf die Knie. Sobald sie die Augen schloss, glaubte sie zu fühlen, wie die Sicherheit ihrer mathematischen Studien und das Wissen über die Maschine Mensch ihr entglitten. An die Stelle der Gewissheiten traten Chaos und Enttäuschung, gespiegelt in den Gesichtern dreier Frauen: einer traurigen Mutter, die seit zwanzig Jahren um ihr totes Kind weinte, einer selbstsüchtigen Mutter, die zu ihrer Tochter so kalt war wie eine Tote. Und einer toten Mutter, die ihre wahren Züge hinter einem Vorhang aus bleichem Haar verbarg.
Direkt nach dem Festmahl, bei dem Maria Eleonora ihre Tochter pausenlos um eine höhere Apanage anbettelte, brach Kristina überraschend mit hohem Fieber zusammen. Als Elin völlig verstört bei ihrem Gemach ankam, hatte Doktor van Wullen Kristina bereits zur Ader gelassen. »Gut dass Sie hier sind«, murmelte er. »Sie hat schon nach Ihnen verlangt. Wischen Sie ihr die Stirn ab, wenn sie unruhig wird.« Elin nickte und ließ sich mit zitternden Knien neben dem Bett nieder. Fräulein Ebba war nicht da – Elin nahm an, dass Kristina sie weggeschickt hatte, um Maria Eleonora zu beschäftigen. Im Zimmer brannten Kerzen, die Vorhänge waren zugezogen. Kristinas Haut glänzte vor Fieberschweiß. Elin kam sich vor, als wäre sie mit der Königin begraben worden. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel Angst gehabt. Ihre Mutter hatte sie verloren, das begriff sie. Aber was, wenn sie nun auch noch Kristina verlieren würde?