Gegen Mitternacht schreckte Kristina hoch. Beim Anblick der geschlossenen Vorhänge riss sie entsetzt die Augen auf. Ihre Fingernägel wurden zu Krallen, die sichelförmige Male auf Elins Arm hinterließen.
»Das Herz!«, flüsterte die Königin atemlos. »Das schlagende Herz!« Elin versuchte sie zu beruhigen, aber die Königin richtete sich auf und weinte. »Barmherziger Gott, sie hat sein Herz genommen … in der goldenen Kapsel hängt es!«
»Da ist kein Herz!«, flüsterte Elin, selbst zu Tode erschrocken. Nur langsam kam Kristina zu sich. Ihre irrenden Augen fanden ein wenig Ruhe.
»Mach die Vorhänge auf, um Gottes willen!«, bat sie. »Ich will die Nacht sehen! Und lösche die Kerzen. Ich war lange genug in einer Gruft eingesperrt.«
Elin sprang auf und riss die Vorhänge zur Seite.
»Sehen Sie? Kein Herz!«, rief sie.
Die Königin wandte ihr die fiebrigen Augen zu.
»Es ist immer da«, flüsterte sie. »Das Herz meines toten Vaters. Ihn verfolgte sie mit einer krankhaften Zuneigung. Mich hat sie gehasst.«
Elin dachte an Maria Eleonoras maskenhaftes Gesicht und schauderte.
»Siehst du meine schiefe Schulter?«, flüsterte Kristina. »Ich bin ein Krüppel – nicht besser als die Unglücksmenschen, mit denen sie sich umgibt. Sie hat mir nie verziehen, dass ich nicht als Sohn auf die Welt kam und dass mein Vater mich liebte. Man sagte, ein Balken fiel auf meine Wiege und brach mir die Schulter. Aber ich weiß, dass meine Mutter heimlich hoffte, ich würde sterben. Vielleicht misshandelte sie mich oder ließ mich absichtlich fallen.«
»Das … ist ein Fiebertraum, Kristina«, sagte Elin sanft.
Die Königin schüttelte heftig den Kopf. Haarsträhnen klebten an ihrer Stirn.
»Dieser Albtraum ist mein Leben«, sagte sie. »Und zwar seit dem Moment, als meine Mutter mit dem Sarg meines Vaters aus Deutschland zurückkehrte. Sie ließ seinen Leichnam einbalsamieren und weigerte sich jahrelang, ihn bestatten zu lassen.« Das Reden strengte die Königin so sehr an, dass sie nach Luft rang, und Elin beeilte sich, ihr den Schweiß abzutupfen. »Bei ihrer Rückkehr war ich ein Kind«, flüsterte Kristina. »Mit einem Mal liebte sie mich, weil ich ihrem toten Gemahl ähnlich sah, sie erstickte mich in ihren Umarmungen. Sie zog mit mir nach Nyköping, ließ alle Gemächer mit schwarzem Stoff ausschlagen und die Fenster verhängen. Narren und Krüppel lungerten in dieser Gruft herum und erschreckten mich zu Tode. Kerzen brannten Tag und Nacht. Ständig trug diese Wahnsinnige das Herz meines Vaters in einer goldenen Kapsel mit sich herum. Sein Sarg stand am Fuß der Treppe – manchmal ging ich daran vorbei und bildete mir ein, seine Finger zu hören, die verzweifelt an der Innenseite des Sargdeckels kratzten. Krank, wie sie ist, weinte und klagte sie unaufhörlich. Ihre Tränen nässten das Bett, das ich mit ihr teilen musste. Ein Jahr dauerte diese Folter, bevor Axel Oxenstierna endlich ein Machtwort sprach und mich erlöste.« Ihre Stimme wurde bitter. »Das, Elin, ist Mutterliebe. Nichts als geisteskrankes Witwentheater.« Keuchend rang sie nach Luft. Elin strich ihr das Haar aus der Stirn.
»Versprich mir eins«, flüsterte die Königin mit geschlossenen Augen. »Begrabe endlich deine Mutter. Du siehst, was geschieht, wenn man sich zu sehr an die Toten klammert. Sie kehren nicht zurück. Man selbst ist es, den sie mit sich ins Grab ziehen.«
Elin schluckte und ließ es zu, dass ihr die Tränen über die Wangen rannen. Seltsamerweise tat es gut, zu weinen. Sie kam sich vor, als würde sie in einem Trümmerfeld sitzen, und hatte unendlich Mitleid mit der Königin – und ein wenig auch mit sich selbst.
Mit einer großzügigen Apanage zog Maria Eleonora weiter auf ihren Witwensitz nach Nyköping. Im Schloss atmete man erleichtert auf. Nach einigen Wochen erschien Kristina völlig abgemagert im Arbeitskabinett. Alles ging weiter wie bisher, nur Elin war nicht mehr dieselbe. Sie vergrub sich noch tiefer in ihre Bücher und betäubte ihren Schmerz mit Wissen. Das Studium linderte die Einsamkeit, die sie vor allem nachts spürte. Hampus, der sie oft mit einem verwunderten Lächeln betrachtete, bemerkte, sie wüsste bald mehr als er und die Mathematikstudenten zusammen.
»Du brauchst schon wieder ein neues Kleid«, sagte Lovisa eines Morgens, während sie die Kleidertruhe in Elins Zimmer inspizierte. »Wie wäre es mit einem blauen? Tiefes Dekolletée – inzwischen kannst du es tragen.«
»Am liebsten habe ich mein Reitkleid. Es war mir ohnehin zu groß, als ich es bekam. Und man kann die Schnürbrust weiter machen.«
»Ich kenne jemanden, der eine etwas damenhaftere Erscheinung zu schätzen weiß.« Lovisa lächelte Elin verschwörerisch zu. »Zumindest hat er sich schon in dein Porträt verliebt.«
Elin blickte irritiert von ihrem Brief auf, den sie gerade an Emilia schrieb.
»Mein Porträt?«
»Was dachtest du denn, wofür ich die Miniaturen brauche?« Elin warf die Feder so heftig auf den Tisch, dass die Tinte quer über das Blatt spritzte.
»Du willst mich verschachern?«
»Ich verschaffe dir eine großartige Chance! Dein Verehrer ist ein Kaufmann namens Gustav Nilsson, ein anständiger Mann, der vor fünfzehn Jahren Witwer geworden ist …«
»Vor fünfzehn Jahren?«
»Er ist wohlhabend und hat es nicht nötig, Geld zu erheiraten. Und mit seinem Namen würdest du …«
»Lovisa!«
»Lerne ihn doch erst einmal kennen.«
»Das brauche ich nicht.«, schrie Elin sie an. Jetzt wurde auch Lovisa wütend.
»Aber es wäre das Beste für dich, zu heiraten«, sagte sie streng. »Sei froh, dass überhaupt jemand ein Hurenkind wie dich will.«
»Aber das Hurenkind will nicht!«
Lovisa warf das Kleid, das sie gerade begutachtet hatte, in die Truhe zurück und knallte den Deckel zu.
»Du hörst mir jetzt zu, Elin!«, keifte sie. »Ich musste dankbar sein, dass Gustav Adolf mich nach dem Tod meines Mannes ins Schloss aufgenommen hat. Wohin hätte ich auch gehen sollen? Und jetzt friste ich hier mein Dasein als Gänsemagd für die adligen Töchter. Willst du so enden?«
»Besser so, als wenn ich mich als Ehefrau kaufen lasse.«
Lovisas Züge verhärteten sich noch mehr.
»Du weißt nicht, wovon du sprichst. Ein Arzt kannst du als Frau nicht werden, bilde dir das nur nicht ein. Noch bist du Kristinas Spielzeug und sie lässt dich gewähren. Aber auch eine Königin kann sterben – und dann hast du an diesem Hof nur Feinde und keinen Schutz mehr. Oxenstiernas Sohn wird dich nur zu gern wieder in den Stall zurückjagen, aus dem du gekommen bist.«
»Es reicht, Lovisa«, sagte Elin eisig. »Ich brauche kein neues Kleid und schon gar keinen Ehemann.« Wütend raffte sie ihre Unterlagen zusammen und stürmte aus ihrem Gemach.
Wie erwartet fand sie Hampus in der Bibliothek. Er schreckte hoch, als sie ihre Bücher mit Schwung auf den Tisch warf.
»Habe ich etwas verpasst?«, fragte er ruhig. »Ist der Krieg vorbei?«
»Mein Krieg hat eben erst begonnen!«, rief Elin empört aus. »Lovisa hat sich in den Kopf gesetzt, mich zu verheiraten!«
»Es dürfte wohl leichter sein, Enhörning über rohe Eier tanzen zu lassen. Wer ist der Glückliche?«
Gegen ihren Willen musste Elin lachen.
»Ein gewisser Gustav Nilsson.«
Hampus pfiff durch die Zähne.
»Sehr reich.« Er beugte sich wieder über sein Buch. »Und – wirst du darüber nachdenken?«