»Gehen Sie nur nach oben, Mademoiselle. Mein Mann ist in seinem Arbeitszimmer.«
Elin drehte sich um und rannte ganz undamenhaft die Treppe hinauf.
»Monsieur Chanut!«, rief sie. Endlich kam die letzte Stufe. Elin fegte um die Ecke – und rannte gegen ein Hindernis. Schwappender Wein malte eine purpurrote Kaskade in die Luft. Instinktiv riss sie die Hand, die den Brief hielt, in die Höhe und sprang zur Seite. Mit einem staubigen Knall kam ein Buch auf dem Boden auf. Elin blickte auf eine Hand, von der roter Wein tropfte, und glaubte für einen Moment, wieder den Handschuh aus Blut zu sehen – wie damals auf der Lichtung, nachdem sie vom Pfeil getroffen worden war. Und auch diesmal war es Henris Hand!
Der Franzose sah sie an, als wäre sie ein Gespenst. Der Becher, den Elin ihm aus der Hand gestoßen hatte, rollte gegen die Wand. Henri erschien ihr älter – viel älter. Aus dem hageren Jungen war ein Mann geworden, der sie um fast einen Kopf überragte.
»Mademoiselle Elin?«, rief Chanut aus dem Arbeitsraum.
Elin räusperte sich.
»Ja, ich bin hier. Ich … komme schon …«
»Ah, ich habe also richtig gehört«, tönte Chanuts Stimme durch den Flur. »Wer sonst würde die Treppe hochpoltern wie die Kavallerie.« Elin rührte sich nicht und auch Henri wirkte wie erstarrt. Erst nach einer Weile sank ihre Hand mit dem Brief nach unten. Stumm standen sie sich gegenüber. Elin spürte das Klopfen ihres Herzens bis in die Kehle. Langsam, ganz langsam erahnte sie ein Lächeln auf Henris Gesicht.
»Ihr Französisch hat sich verbessert, Mademoiselle«, sagte er leise.
»Ihres auch«, erwiderte sie prompt. »Zumindest, was Ihre Wortwahl mir gegenüber betrifft.«
Es hatte kein Tadel sein sollen, eher ein unbeholfener Scherz. Zu ihrer Überraschung reagierte Henri nicht gekränkt, sondern zog spöttisch einen Mundwinkel hoch.
»Gut, dass Sie mich daran erinnern! Ihre Rübenkrone habe ich noch im Gepäck.« Sein Lächeln wurde breiter. »Ich freue mich sehr, Sie gesund zu sehen.«
»Ich freue mich ebenfalls, Monsieur de Vaincourt«, antwortete sie. Die Nennung seines Namens vertrieb das Lächeln aus seinem Gesicht.
»Haben Sie … meine Sendung erhalten?« Verdammt! Wie konnte sie so unhöflich sein und sich nicht für das Zaumzeug bedanken!
»Ja«, murmelte sie.
»Dann ist Ihr Dankesbrief wohl auf dem Weg nach Deutschland verloren gegangen.« Da war er wieder, der überhebliche Tonfall. Vor ihr stand Henri de Vaincourt, der Adlige, und Elin wusste beim besten Willen nicht, womit sie ihn gekränkt hatte. In diesem Augenblick stellte sie fest, wie mühelos ein alter Hass aufbrechen konnte. Es war einfacher, ihm feindlich gesinnt zu sein, als sich um ein neues Lächeln zu bemühen.
»Ich wüsste nicht, wofür ich Ihnen zu danken hätte«, erwiderte sie kühl. »Ich hoffe, der scharfe Zaum fehlt Ihnen nicht. Sie scheinen ja ein Talent dafür zu haben, tief vom hohen Ross zu fallen.«
Der Blick des Franzosen wurde noch finsterer.
»Offenbar sind Sie bestens über mein Unglück informiert. Vielen Dank, dass Sie mich so höhnisch daran erinnern, ein Krüppel zu sein«, sagte er. »Entschuldigen Sie mich.« Er zupfte an seinem weinbefleckten Ärmel und ging an ihr vorbei. Das heißt, er ging nicht, er versuchte zu gehen und dabei zu verbergen, dass sein rechtes Bein steif und ungelenk war.
Elin biss sich auf die Lippe. Es kam ihr vor, als hätte Henri ihr den Wein mitten ins Gesicht geschüttet.
»Ah, ich sehe, die jungen Leute haben sich schon getroffen«, erklang Chanuts muntere Stimme. Der Botschafter stand mit verschränkten Armen in der Tür, um seine Augen bildete sich ein Netz von Lachfältchen.
»Henri! Wollen Sie sich nicht mit Mademoiselle Elin in mein Kabinett setzen und ein wenig plaudern?«
»Bedaure«, erwiderte Henri. »Ich habe noch zu tun. Ein andermal gerne.«
Er nickte kurz und verschwand in ein anderes Zimmer. Betreten sah Elin ihm nach. Als hätte das Wortgefecht alte Wunden wieder aufgerissen, schmerzte plötzlich ihre Narbe am Rücken.
»Verzeihen Sie ihm, Mademoiselle«, sagte der Botschafter. »Er ist erst heute angekommen und noch müde von der Reise. Was haben Sie für mich? Einen Brief?«
»Für Monsieur Descartes«, sagte sie schnell. »Königin Kristina bittet Sie, ihn der Korrespondenz beizulegen.«
»Gut, gut. Das werde ich gerne tun. Kommen Sie doch herein, dann gebe ich Ihnen noch einige Dinge für die Königin mit.«
Zögernd betrat Elin das Schreibzimmer des Botschafters, das voll gestopft war mit Schriften und Büchern. Chanut tauchte unter den Schreibtisch und wühlte in einer Schublade. »Bleibt Monsieur de Vaincourt lange in Stockholm?«, fragte sie nach einer Weile.
»Solange er möchte«, tönte Chanuts Stimme dumpf hinter dem Möbelstück hervor. »Wir kennen seine Pläne noch nicht. Er hat uns gewissermaßen überrascht. Aber natürlich ist er als Freund der Familie jederzeit willkommen. Ah, hier ist es.« Mit rotem Gesicht tauchte er wieder auf und reichte Elin ein dünnes Buch. »Mit Dank zurück an die Königin. Wissen Sie, Henri hat eine schwere Zeit hinter sich, und kaum vom Schlachtfeld heimgekehrt, fand er sich in Erbschaftsstreitigkeiten verwickelt. Es ist keine schlechte Wahl für ihn, eine Reise zu machen.«
»Was ist ihm zugestoßen?«
»Oh, das wissen Sie nicht? Graf de Vaincourt hat ihn als Kadett mitgenommen, befahl ihm dann aber in der Schlacht, bei der Kavallerie in erster Reihe mitzureiten. Monsieur Henri geriet ins Kreuzfeuer und wurde vom Pferd geschossen.« Er seufzte. »Das geschieht nun einmal, wenn man einen jungen, in der Kriegskunst noch unerfahrenen Mann aufs Schlachtfeld schickt. Nun, alles andere sollte er Ihnen selbst erzählen. Grüßen Sie bitte die Königin von mir!«
»Das … werde ich«, murmelte Elin. Leise schlich sie die Treppe hinunter und floh auf die Straße. Diesmal blickte Henri ihr nicht durch das Fenster nach.
Das Schiff mit der Kriegsbeute aus Prag kam unbemerkt in den frühen Morgenstunden an, als die Lakaien noch schliefen und Johan Oxenstierna mit Fieber im Bett lag. Erst gegen drei Uhr morgens hatte Elin ihr Buch zugeschlagen, sich an das Fenster gesetzt und den Hafen betrachtet. Als sie die Fackeln am Ufer entdeckte und aufgeregte Rufe hörte, sprang sie auf, holte ihren Mantel und lief zu den Kellern. In den Ziegelgewölben waren die Schauerleute schon dabei, mit Stoff umhüllte Gegenstände über Flaschenzüge von der Anlegestelle direkt in die Keller hinunterzulassen. Kurz darauf erschien Kristina mit aufgelöstem Haar im Gewölbe. Sie warf Elin ein strahlendes Lächeln zu, zerrte den Stoff vom nächstbesten Gegenstand und stieß einen entzückten Ruf aus. Ein schwerer Goldrahmen kam zum Vorschein. Und ein nackter, anmutiger Fuß, von Meisterhand gemalt.
Noch vor Sonnenaufgang wurde in der Kunstkammer des Schlosses Platz für die neuen Werke geschaffen. Ebba und Elin arbeiteten fast den ganzen Tag daran, die Tafelgemälde deutscher, italienischer und niederländischer Maler auf Staffeleien und Tischen zu drapieren. Mit kritischem Blick wachte David Beck über das Arrangement der Kunstwerke. Juwelen leuchteten in Schatullen. Elin staunte über das Silber und die Medaillen, die Majoliken und Skulpturen. Zur Sammlung aus dem Hradschin gehörte auch die prächtige Ulfilas-Bibel in gotischer Sprache.