»Ach Elin, dich werde ich am meisten vermissen, wenn ich nicht mehr hier bin«, seufzte Kristina.
»Sie … du willst auf Reisen gehen?«
Kristina streckte die Hand nach Elins Haar aus und ließ eine Strähne durch ihre Finger gleiten.
»Ich spreche davon, Schweden für immer zu verlassen«, sagte sie leise. Elin hatte das Gefühl, dass die Flammen plötzlich Kälte abstrahlten.
»Schweden verlassen? Das kannst du nicht! Du bist die Königin!«
»Meine Güte, ich werde ja auch nicht sofort aufspringen und wegreiten! Nein, aber eines Tages möchte ich dieses Land verlassen. Nichts wünsche ich mir mehr!«
Elin kämpfte mit den Tränen. Sie würde allein zurückbleiben – allein in Stockholm, mitten im Wolfsrudel der Adligen, das nur darauf wartete, sie zu zerreißen.
»Und … deine Krone? Du wirst nächstes Jahr offiziell gekrönt!«
»Eine Krone kann man ablehnen oder sie später wieder ablegen. Zumindest habe ich jetzt endlich einen offiziellen Nachfolger«, gab Kristina zu bedenken. »Auch wenn der Rat und die Stände ihn nur zähneknirschend anerkannt haben. Karl wird ein guter König sein.« Sie lächelte und prostete Elin zu. Elin war nicht mehr nach Wein zumute.
»Und was wird … aus mir? Lässt du mich zurück?«
»Ich kann nicht meinen ganzen Hofstaat mitnehmen.« Als sie Elins enttäuschtes Gesicht sah, lachte sie laut auf. Ebba regte sich auf ihrer Bank, wachte jedoch nicht auf. »Ach Elin Trollkind!«, fuhr Kristina leiser fort. »Sollte ich jemals wirklich in den Süden gehen, in das Land der Musik und des Tanzes – dann nehme ich dich natürlich mit!« Elin hatte nicht gewusst, wie gut sich Erleichterung anfühlen konnte.
»Aber Italien – das ist doch ein katholisches Land«, sagte sie nach einer Weile.
»Na und? Viele große Geister und bemerkenswerte Menschen sind Katholiken. Monsieur Descartes gehört dazu, Monsieur Tervué …« Sie lächelte. »… und auch Henri de Vaincourt.« Elin versuchte den Stich, den sie bei der Erwähnung von Henris Namen spürte, zu ignorieren.
»Aber du bist Lutheranerin«, beharrte sie. »Du hast für die Glaubensfreiheit der Protestanten gekämpft. Für die Schweden wäre es Verrat.«
»Dieselben Schweden hatten nichts dagegen, katholische Bündnispartner wie Frankreich zu haben. Katholiken kämpfen auf der Seite von Protestanten gegen Katholiken, wenn es um Gewinne geht – ebenso wie Lutheraner gegen Lutheraner kämpfen würden.«
Elin schwieg. Der Wein hatte ihre Wahrnehmung getrübt und gaukelte ihr das Bild von Henri vor, der am Boden lag und aus einer Schusswunde blutete. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt – und Elin hatte Angst um sein Leben. Mühsam rief sie sich in Erinnerung, dass Henri nur wenige Gassen vom Schloss entfernt in seinem Bett lag und wohlauf war.
»Zum Teufel mit solchen Gedanken«, sagte Kristina. »Die Regeln machen die Menschen, nicht die Priester – und ich bin sicher, dass wir dafür nicht ins Höllenfeuer kommen, wie unsere lutherischen Kanzelritter es behaupten. Glaubst du vielleicht daran, dass Gottes geschriebenes Wort alles ist, was zählt?«
Elin räusperte sich. Noch nie hatte sie mit jemandem über ihren Glauben gesprochen. Aber es schien das Selbstverständlichste der Welt zu sein, hier – im Schutz der gemalten heidnischen Götter – ihren ketzerischen Gedanken auszusprechen.
»Um es mit deinen Worten zu sagen: Ich denke, die Seele kennt keine Religion, die Seele kennt nur Gott. Und sobald ich weiß, dass Emilia gesund und glücklich ist, werde ich mit dir gehen, Kristina. Von mir aus auch ans Ende der Welt bis nach Terra Australis.«
Kristina lachte und drückte Elins Hand.
»Immer einen Schritt nach dem anderen«, sagte sie leise. »Zuerst einmal fahren wir nach Uppsala.«
Ketzerkind
Im Licht des Morgens verflog die Magie der Nacht und der Zauber eines ganz neuen Tages umfing Elin. Der Tag, an dem sie nicht mehr zweifelte. Irgendwann würde sie ins rosenfarbene Land reisen – mit Kristina und Ebba. Vorerst aber bereitete sich Elin auf eine Reise vor, die im Augenblick weitaus aufregender war als der Gedanke an fremde Länder. Drei Wochen lang würde die Königin im alten Schloss in Uppsala residieren. Mehrere Unterredungen mit dem Bischof und viele öffentliche Audienzen standen ihr bevor. Seit Tagen wurde gepackt und vorbereitet.
»Was willst du denn noch alles mitnehmen?«, stöhnte Lovisa beim Anblick von Elins Bücherberg.
»Nur noch die Behälter mit den Arzneien.« Elin machte sich daran, die kostbaren Flaschen einzuwickeln und in der gepolsterten Truhe zu verstauen. Beim Gedanken daran, Emilia wieder zu sehen, sang ihr Herz. Lovisa seufzte.
»Ach, wenn Tilda nicht ausgerechnet jetzt ihr Kind bekäme, würde ich mit nach Uppsala fahren. Was um Himmels willen ist dieses stinkende Zeug hier?«
»Pulver aus zerriebenen Mumien. Es soll sogar gegen die Pest helfen. Wogegen es aber auf jeden Fall hilft, sind die Motten in den Kleidertruhen.«
Der Konvoi, der wenig später nach Uppsala aufbrach, bestand nur aus vierzig Gardisten und vier Karossen. Sobald das Gepäck sicher verstaut war, schwang sich Elin in den Sattel. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie einen humpelnden Mann, der zu einem hellgrauen Pferd ging. Ohne den Kopf zu wenden, erkannte sie ihn – Henri. Als sie glaubte, dass er sie nicht beachtete, wagte sie einen vorsichtigen Blick. Der junge Graf zog sich mühsam auf sein Pferd und verzog dabei das Gesicht, als bereite ihm diese Anstrengung Schmerzen. Erst als er im Sattel saß, entspannten sich seine Züge und er sah sich um. Rasch senkte Elin den Blick und nestelte an ihrem Sattel. Endlich setzte sich der Konvoi in Bewegung. Elin ritt neben der königlichen Kutsche an der Spitze des Zuges. Die Karosse war mit Kristinas Symbol – einer Sonne – geschmückt. An einem Türbeschlag prangte auch das Zeichen ihres Vaters: der nordische Löwe, der einen Blitz in der Klaue hielt. Durch das Fenster konnte Elin Kristina direkt auf den Schoß sehen. Die Königin hatte keinen Blick für den Himmel, der heute einem taubenblauen Seidentuch glich, sondern war ganz in ein Buch vertieft. Bald ließen sie Stockholm hinter sich. Elin ritt in leichtem Trab, bis der Tross den Waldrand erreichte, dann überholte sie in zügigem Tempo die Gardisten vor der ersten Karosse. Scharen von Vögeln stoben aus dem Dickicht. Elin lächelte und fühlte sich, als würde sie auf dem Rücken des Pferdes selbst davonfliegen. Hinter ihr ertönte Hufschlag und sie warf einen Blick über die Schulter. Es überraschte sie kaum, Henri zu sehen. Geschickt lenkte er sein Pferd neben sie. Doch er grüßte sie nicht, wie es die Höflichkeit erfordert hätte. Wie auf ein geheimes Zeichen trieben sie ihre Pferde zu einem schnelleren Trab an und ritten nebeneinanderher. Die Rufe und das Rumpeln der Kutschräder hinter ihnen wurden immer leiser. Schließlich erreichten sie die nächste Wegbiegung und waren endgültig aus dem Sichtfeld der Gardisten verschwunden. Während sie weiterritten, musterten sie sich betont gleichgültig aus den Augenwinkeln. Elin konnte Henris Gesichtsausdruck nicht deuten, aber sie hatte mit einem Mal unbändige Lust, etwas zu tun, wofür Lovisa sie sicher rügen würde. Unmerklich wurde der Trab noch schneller. Dann, an einer großen Birke, gab sie Enhörning frei. Der Hengst spannte die Muskeln und stürmte los. Darauf hatte Henri offenbar nur gewartet. Das Rennen begann. Die Pferde streckten sich und sprangen wie Spiegelbilder über einen Haufen von Zweigen auf dem Weg. Elin genoss diesen Moment des Schwebens, bis Enhörnings Hufe wieder aufsetzten. Weiter ging die Jagd am Waldrand entlang. Elin trank die Luft und war glücklich. Vor ihr lag die Welt. Und als sie sich nach Henri umsah, fühlte sie sich noch leichter. Henri lachte! Sie hatten den Konvoi meilenweit hinter sich gelassen, als sie endlich langsamer wurden und ihre Pferde schließlich in den Schritt fallen ließen. Schaum tropfte von den Pferdemäulern auf den Boden, Schweiß glänzte auf den Flanken. Henri klopfte seinem Hengst den Hals.