Elin vergaß, dass eine Dame nicht rennen durfte, und achtete nicht darauf, dass der Saum ihres Kleides über nasses Gras und Schlamm schleifte. Von weitem sah sie eine Frau neben der Hütte stehen. Ihr rotes Haar hob sich von ihrem schwarzen Kleid ab wie ein Heiligenschein aus Kupfer.
»Emilia!« Die Frau fuhr herum. Vor Überraschung wäre Elin beinahe gestolpert. Im letzten Augenblick aber fing sie sich und blieb stehen.
»Wer sind Sie?«, fragte die fremde Frau.
»Elin. Elin Asenban.«
Die Frau war sichtlich erschrocken. Zu Elins Bestürzung eilte sie zu ihr, griff nach ihrer Hand und küsste sie.
»Sie sind es«, flüsterte die Frau. »Ich danke Ihnen so sehr! Ich bin Emilias Schwester – Frida. Oh, dass Sie gekommen sind!«
Angst legte sich um Elins Brust wie eine Klammer.
»Wo ist Emilia?«
Die Kammer, die sie gleich darauf betraten, war niedrig und von Kerzenwärme erfüllt. Elin kniff die Augen zusammen und sah sich um. Tisch und Stühle waren an die Wand gerückt, um einer Kiste Platz zu machen. Nach und nach schälten sich im spärlichen Kerzenschein die Umrisse einer Gestalt aus dem Halbdunkel der Hütte. Eine Frau lag hier in einem Sarg, das Kinn trotzig vorgereckt. Die Wangen waren eingefallen, die Haut gelb wie Wachs. Fassungslos starrte Elin Emilia an – einen fremden Leichnam mit verblichenen Sommersprossen und strengen Gesichtszügen. Das Würgen kam so plötzlich, dass sie beide Hände vor den Mund schlagen musste. Der Beutel entglitt ihr. Mit einem Klirren zerbrach eine Flasche, Sandelholzaroma verbreitete sich im Raum. Das Zimmer schien sich zu drehen. Gesichter drängten sich an der Tür und starrten sie an – offene Münder, aufgerissene Augen, wie die verdammten Seelen auf einem Gemälde, das die Hölle darstellte.
»Sie war krank«, sagte Frida leise. »Schon lange. Ohne Ihre Unterstützung wäre sie schon viel früher gestorben. Wir danken Ihnen sehr.«
»Sie ist … trotz der Medizin gestorben? Und die Ratschläge, die ich ihr geschickt habe?«
Frida knetete verlegen ihre Hände und senkte den Blick.
»Von Medizin weiß ich nichts. Und auch nicht von Ratschlägen. Ich weiß nur von dem Geld.«
»Die Briefe! Sie hat doch meine Briefe gelesen!«
Erst als sie das Raunen hörte, wurde ihr bewusst, dass sie die letzten Worte herausgeschrien hatte. Die Fratzen am Fenster starrten sie nun drohend an. Unregelmäßige, eilige Schritte erklangen, dann erschien Henris besorgtes Gesicht in der Tür. Frida räusperte sich und deutete zum Tisch.
»Vielleicht finden Sie dort, was Sie suchen.«
Elin ging zum Tisch hinüber und vermied es, die strenge Gestalt im Sarg anzuschauen. Die schäbige Kassette, die sie mit zitternden Händen öffnete, roch nach altem Pergament. Da waren ihre Briefe. Dutzende. Versiegelt und unberührt.
»Sie hat sie gehütet wie einen Schatz«, sagte Frida.
»Bitte, darf ich allein mit ihr sein?«, bat Elin heiser. Sie nahm kaum wahr, dass die Dorfbewohner sich langsam entfernten. Henri trat leise in die Stube und blieb neben der Tür stehen. Elin war ihm dankbar dafür, dass er nichts sagte.
Scheu trat sie an den Sarg heran. Es kostete sie mehr Überwindung als alles, was sie bisher in ihrem Leben getan hatte, die Hand auszustrecken und die kalte Haut zu berühren.
Es war ähnlich wie in ihrem Fiebertraum – nur viel erschreckender. Als ihre Fingerspitzen über die Hände strichen, fühlte Elin noch etwas. So behutsam, als würde Emilia ihre Bewegungen spüren, ließ sie ihre Fingerspitzen über eine seltsam ausgebeulte Stelle unter dem Schlüsselbein wandern. Die Geschwulst, die sie unter dem Totenhemd ertastete, war so groß wie eine knochige Männerfaust. Elin biss die Zähne zusammen. Erst als Henri neben sie trat und ihr die Hand auf den Arm legte, bemerkte sie, dass sie auf Schwedisch fluchte. »Du verdammte Närrin«, zischte sie Emilia zu. »Du hast es gewusst. Und du hast nichts getan! Du … Feigling!« Aber die eingefallenen Lider der Toten regten sich nicht.
»Mademoiselle«, versuchte Henri sie sanft zu beruhigen.
»Lass mich in Ruhe!«, fuhr Elin ihn an.
Henri schluckte und zog die Hand zurück.
»Natürlich«, sagte er respektvoll und trat zur Tür, wo er stehen blieb und schwieg. Elin schniefte. Die Kerzen flackerten und ließen Emilia in einem Moment so aussehen, als ob sie lächelte. Gleich darauf verliehen sie ihr einen unglücklichen Ausdruck. Elin stand verloren in der Kammer. Sie wollte nicht gehen – noch nicht. Einige lange Minuten ertrug sie es, dass die Briefe sie verhöhnten, dann drehte sie sich zum Ofen um und suchte nach dem Stapel mit dem Feuerholz. Es waren Handgriffe aus einer längst vergangenen Zeit, die sie immer noch beherrschte wie ein Schlafwandler seine Schritte. Sie schämte sich nicht, wieder Elin von den Königsgräbern zu sein, sondern entfachte gewissenhaft das Feuer im Ofen und schürte die Glut. Seltsamerweise störte es sie nicht einmal, dass Henri sie bei diesem Magddienst beobachtete. Sobald das Feuer brannte, setzte sie sich davor und brach das Siegel ihres ersten Briefes. Ihre Handschrift war noch unbeholfen und fahrig. Sie konnte kaum glauben, dass sie diese Worte selbst geschrieben hatte:
Liebe Emilia,
Ich hoffe, Dein Herz schmerzt nicht mehr.
Mir geht es gut.
Brief um Brief öffnete sie, las die Zeilen und verbrannte das Schriftstück. Mit jedem Schreiben wurde ihre Schrift gerader, die Worte zahlreicher.
Sie las die Rezepte und Ratschläge, betrachtete ihre Zeichnung eines Herzens, sie durchlebte noch einmal die Suche nach ihrer Mutter und staunte darüber, wie genau sie Karl Gustavs Ernennung zum Oberbefehlshaber in Deutschland beschrieben hatte. Es war der Brief einer Hofdame, verfasst mit Witz und Scharfsinn. Nur für Emilia war sie immer Elin aus Gamla Uppsala geblieben. Als sie vom letzten Brief aufblickte, war das Feuer bereits heruntergebrannt. Frida kam zu ihr und zündete neue Kerzen an. Henri stand immer noch in der Tür und hielt Wache.
»Setzen Sie sich doch zu mir«, bat Elin ihn. Zögernd löste er sich aus dem Dunkel und ging mit seinen unregelmäßigen Schritten zum Sarg.
»Sie konnten sie nicht retten«, sagte er leise.
»Ich weiß.« Elins Stimme klang bitter. »Ich kann niemanden retten.«
Er zog sich einen Stuhl heran und hielt mit Elin die Totenwache.
Im Morgengrauen kamen zwei Männer, um den Sarg zum Friedhof zu bringen. Elin blinzelte, als sie in die Helligkeit des Morgens trat, und erschrak. Im selben Moment hatte Kester Leven sie auch schon entdeckt. Der Sekretär des Bischofs wurde erst bleich, dann rot.
»Elin?«, fragte er.
»Für Sie Mademoiselle Asenban«, erwiderte sie eisig. »Was führt Sie hierher?«
»Ähnliches wie Sie«, sagte er. »Als ich noch Pfarrer in Gamla Uppsala war, hat sich Emilia mir oft anvertraut. Und nun war es ihr Wille, dass ich sie auf ihrem letzten Weg begleite.«
Elin konnte ihre Verblüffung kaum verbergen. Mit. einem Mal kam sie sich vor wie ein Eindringling. Leven dagegen, so wurde ihr klar, war offenbar Emilias Vertrauter gewesen. Frida und die Dorfbewohner begrüßten ihn unterwürfig. Vor Verwirrung wusste sie kaum, was sie sagen sollte. Das Gefühl von Verrat schmerzte mehr als die Trauer. Kester Leven blickte zu Henri hinüber und runzelte die Stirn.
»Ich kann nicht erlauben, dass ein Herr katholischen Glaubens an der Beerdigung teilnimmt.«
»Das hat er nicht vor«, erwiderte Elin.
Der Geistliche musterte sie mit einem Gesichtsausdruck, den sie schwer deuten konnte.
»Ich kann auch nicht erlauben, dass Sie bei der Beerdigung zugegen sind.«
»Wie bitte?«, zischte sie. »Sie wagen es, einer Hofdame der Königin den Zutritt zur Beerdigung einer Verwandten zu verwehren?«