»Nicht alle sind wie er«, sagte er schließlich leise. »Meine Mutter ist anders – sie hat ein großes Herz. Mein Vater dagegen ist ein Soldat, den der Krieg viel zu hart gemacht hat. Und er ist dünkelhaft, weil er ehrgeizig ist und dennoch seine politischen Ziele nicht erreichen konnte. Am Hof hat er sich durch seinen Ehrgeiz viele Feinde gemacht. Es wird nicht mehr lange dauern, bis er Paris verlassen muss. Außerdem kann er sich die Hochzeit mich meiner Mutter nie verzeihen.«
»Warum?«
»Ihr Erbe hat ihm nicht das Geld gebracht, das er sich erhoffte. Er ist der Meinung, unter seinem Stand geheiratet zu haben. Jeden Tag lässt er sie spüren, dass sie eine schlechte Wahl war.« Er machte eine Pause. »Uns alle lässt er es spüren.«
»Ist … er denn so arm?«
Henri seufzte.
»Arm unter den Reichen. Er hat viel in einem Erbschaftsstreit mit meinem Onkel verloren. Meine Familie besitzt nur noch ein kleines Schloss in der Bretagne, einige Landgüter und Tuchwebereien, außerdem Äcker, auf denen Flachs und Hanf angebaut wird. Die Tücher für die Segelschiffe bringen gutes Geld.«
»Nur ein kleines Schloss«, spottete Elin. »Und du bist nur ein armer Edelmann, der sich über Flachsanbau Gedanken macht.«
»Besser als über den Krieg nachzudenken«, gab Henri zurück. Er richtete sich halb auf und fuhr mit den Fingern die Linie ihres Wangenbogens nach. Sie liebte diesen Ausdruck von Verletzlichkeit in seinem Gesicht. »Als ich … auf dem Schlachtfeld war, habe ich nicht besonders viel Mut bewiesen. Ich dachte immer, wir wären edel von Geburt, so hatte mein Vater es mich gelehrt. Aber als ich … verwundet war … ließ mein Vater mich liegen. Versorgt hat mich ein Soldat. Ich glaube, dort habe ich begriffen, dass die Welt nicht aus hohen und niederen Menschen besteht. Sie besteht aus Kriegern und Bürgern. Und die Krieger zogen nach der Schlacht plündernd und zerstörend durch Bayern – Schweden und Franzosen, Adlige und Söldner, es machte keinen Unterschied.« Er räusperte sich und sah zu den Pferden hinüber. »Mein Vater nennt mich Memme, weil ich ein Krüppel bin und mich nicht zu einer militärischen Karriere berufen fühle.«
Elin dachte an den Schmerz ihrer Verletzung durch den Bolzen der Armbrust und schauderte. Sie nahm Henris Hand und drückte sie an ihre Lippen. »Ich halte dich für einen klugen Mann«, sagte sie. In solchen Augenblicken, in denen sie Henri besonders liebte, wurde ihr bewusst, dass die Tage bereits kühler wurden und schon bald die letzten Schiffe Kurs auf die Ostsee nehmen würden.
»Was wirst du am meisten vermissen, wenn du wieder in Frankreich bist?«, fragte sie. Henri lachte.
»Nichts. Weil ich nicht nach Frankreich zurückgehe.«
»Du kannst nicht ewig in Schweden bleiben.«
»Mich ruft nichts zurück«, erwiderte Henri. »Was soll ich in einem Haus, in dem ich Feigling genannt werde?«
Seine Stimme bekam einen bitteren Klang. »Ich kann es nicht verstehen – so sehr habe ich versucht, ihm zu gefallen. Ich führte mich auf wie er, ich prügelte mich und zog mit den anderen Kavalieren herum, aber es gelang mir nie, so zu sein wie er. Ich weiß nicht, warum er mich so sehr hasst.«
»Weil du Henri bist«, sagte Elin. »Er hasst dich für all das, was ich … an dir liebe.«
Der Herbst kam in diesem Jahr früh und war golden. Voller Ungeduld wartete Kristina auf die Ankunft von Herrn Descartes. Immer noch war sie damit beschäftigt, den Frieden durchzusetzen, der zwar auf dem Papier bestand, aber weitere Verhandlungen erforderte. Marodierende Söldnerhorden zogen durch die deutschen Städte, der Krieg hatte die Staatsfinanzen geschwächt und die Königin musste nun in ihrem eigenen Land Ordnung schaffen. Dafür beorderte sie deutsche Handwerker nach Schweden, verbesserte die Verwaltung und Infrastruktur ihres Landes und verbot endgültig jegliche Hexenverfolgung. Inzwischen plante sie auch die Errichtung einer wissenschaftlichen Akademie auf Tre Kronor. Zu Elins Kummer diskutierte sie darüber am liebsten mit Monsieur Tervué. Seltsamerweise bestand zwischen ihr und der Königin seit dem Gespräch über Henri immer noch eine unterschwellige Spannung, die sich Elin nicht erklären konnte. Bisher hatte Kristina nichts über Kester Levens Papiere in Erfahrung bringen können und vertröstete sie stets aufs Neue.
Es war Anfang September, als Henri zum ersten Mal wieder das Schloss betreten durfte und zu den Jagden eingeladen wurde. Elin und Henri achteten darauf, sich ihre Vertrautheit nicht anmerken zu lassen, und verfielen in ihre alte Gewohnheit, sich spöttische Sätze zuzuwerfen. Es war erstaunlich einfach – und Elin erkannte mit Verwunderung, wie haarfein die Linie zwischen Liebe und Hass war. So mühelos beherrschte Henri es, in die Rolle von Monsieur de Vaincourt zu wechseln, dass es Elin manchmal nicht geheuer war. Nur Freinsheim lächelte wissend, wenn sie in der Bibliothek Schach spielten, und gab vor, nicht zu bemerken, wie sich verstohlen ihre Hände berührten, wenn eine der Spielfiguren zu Boden fiel. Tervué beobachtete Elin in diesen Wochen ebenso genau wie Lovisa. Elin wusste, dass sie mit dem Feuer spielte, und immer wieder sagte ihr eine gemeine Stimme, die der von Kristina erschreckend ähnlich war, dass ein Graf, mochte er auch ein Armer unter den Reichen sein, niemals eine Reiche unter den Armen lieben konnte.
Der zerbrochene Spiegel
Das Schiff mit Passagieren aus Holland kam in Stockholm an, als schon die ersten Herbststürme die Blätter von den Bäumen fegten. Elchschinken hingen in den königlichen Räucherkammern; Fässer mit eingelegten Pilzen, Fisch und Zwiebeln lagerten bereits als Wintervorrat in den Kellern.
»Monsieur Descartes ist da!«, rief Kristina Elin zu, die eben die Weisungen für ein neues Schulhaus überprüfte. »Ausgerechnet jetzt, wo Chanut für ein paar Wochen in Frankreich ist! Gib Herrn Freinsheim Bescheid und geh mit ihm zum Hafen!«
Elin sprang so schnell auf, dass ihr Stuhl beinahe umfiel. Wenig später verließ sie mit ihrem weiten Dominomantel bekleidet das Schloss und eilte zur Anlegestelle. Ein schneidender Herbstwind heulte um die Häuser am Hafen. Blinzelnd sah sich Elin nach Herrn Freinsheim um, aber natürlich brauchte er einige Zeit, um mit der Kutsche nachzukommen. Währenddessen gingen bereits die ersten Passagiere von Bord. Elin hielt den Mantel mit den Händen zu und spähte zu den gebeugten Gestalten, die im Gänsemarsch das Schiff verließen. Vor Aufregung wurde ihr Mund ganz trocken.
»Monsieur Descartes?«, rief sie auf gut Glück. Fünf Gestalten hoben den Kopf – eine winkte. Descartes war nicht besonders groß, dicklich und unscheinbar. Es war nichts Strahlendes an ihm. Nie hätte sie vermutet, einen der größten Philosophen ihrer Zeit vor sich zu haben. Eine Zornesfalte teilte seine Stirn. Er hatte dunkle, ausdrucksstark geschwungene Brauen und tiefe Falten um den Mund. Seine Augen waren hellwach.
»Monsieur Freinsheim wird gleich mit der Kutsche hier sein, um Sie zur Botschaft zu bringen«, sagte Elin.
»Nach der langen Fahrt hätte ich auch nichts dagegen, einige Straßen zu Fuß zu gehen«, gab der Philosoph zurück und schenkte ihr ein liebenswertes, schlaues Lächeln.
Schon am nächsten Tag ließ Kristina Monsieur Descartes ins Schloss bitten. Zu Elins Überraschung erschien der unscheinbare Mann herausgeputzt wie ein Edelmann mit spitzengeschmückten Handschuhen, geschlitzten Ärmeln und frisch gewelltem Haar in der Bibliothek.
»Griechisch, Mademoiselle?«, fragte er tadelnd und tippte mit spitzem Finger auf das Buch, das aufgeschlagen vor Elin lag. »Zeitverschwendung. Lassen Sie die klassische Philologie hinter sich und vertrauen Sie lieber auf Ihren Verstand. Wie Madame Chanut mir in ihren Briefen mitteilte, haben Sie genug davon.«
Verlegen klappte Elin das Buch zu.
»Aber man muss doch die alten Sprachen können.«
»Überflüssig! Gedankenspiele für Kinder. Bestimmt beschäftigen Sie sich auch mit Geschichte, nicht wahr?«