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Sie nickte. Descartes lachte nachsichtig.

»Sie sind jung, Mademoiselle. Aber Sie werden feststellen, dass uns die Geschichte keine Antworten liefern kann. Es sind nur Ansammlungen fremder Gedanken und Behauptungen. Die wahren Antworten liegen in uns selbst.«

Elin wollte gerade etwas erwidern, als schon Kristina in Begleitung von Herrn Freinsheim auftauchte. Sie strahlte wie ein Mittsommertag, als sie den Philosophen begrüßte.

»Mein lieber Herr Cartesius!«, rief sie. »Ich hoffe, Sie fühlen sich in der Botschaft wohl, auch wenn die Chanuts nicht da sind?«

»Vielen Dank für Ihre Sorge, Majestät«, erwiderte Descartes. »Der junge Monsieur de Vaincourt tut alles, um mir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Bei den Kenntnissen, die er sich in der Astronomie angeeignet hat, würde er einen guten Kapitän abgeben.«

»Ich bin sicher, Sie werden sich schnell einleben und sich hoffentlich dazu entschließen, recht lange bei uns zu bleiben. Der Winter mag einem Mann aus den wärmeren Ländern grau erscheinen, aber den Sommer hier müssen Sie erleben!«

Elin entging nicht, wie der Philosoph kaum merklich zusammenzuckte.

»Bedauerlicherweise bleibe ich nur ein paar Wochen, Ihre Majestät, um Ihnen meine Aufwartung zu machen«, sagte er.

Kristinas Antwort war ein Lächeln, das Elin nur allzu gut kannte.

Für die Philologen und anderen Gelehrten bei Hofe war die Ankunft des Philosophen wie ein Wind, der die sorgfältig auf einem Tisch angeordneten Papiere durcheinander wirbelte. Descartes dachte gar nicht daran, seinen Widerwillen gegen das Studium der alten Sprachen zu verbergen. Gerne stritt er sich auch mit Tervué und zog dessen mathematisches und theologisches Wissen in Zweifel. Und auch mit den protestantischen Geschichtswissenschaftlern verscherzte er es sich, allen voran mit Herrn Gesenbek.

Je dunkler die Wintertage wurden, desto frostiger wurde auch das Klima am Hof. Nur Königin Kristina schien davon nichts zu bemerken. Die Regierungsgeschäfte beanspruchten ihre ganze Aufmerksamkeit. Der Rat drängte darauf, dass sie endlich den offiziellen Krönungstermin bekannt geben sollte, und Karl Gustav versuchte immer noch, sie zur Heirat umzustimmen.

An einem kalten Morgen beorderte sie Descartes zu einer Audienz. Inzwischen war der erste Schnee gefallen und hatte die Stadt mit eisigem Samt bedeckt. Als Elin an die Tür der Botschaft klopfte, war es kurz nach vier Uhr in der Frühe. Descartes tat ihr Leid, offenbar war er ein so zeitiges Aufstehen nicht gewöhnt. Er sah steinalt aus, hatte noch den Abdruck einer Kissenfalte auf der Wange und nuschelte eine unverständliche Begrüßung. Henri, der ebenfalls aufgestanden war, nutzte die Zeit, in der der Philosoph seine Bücher zusammensuchte, um mit Elin einige Worte zu wechseln. In Augenblicken wie diesen fehlten Elin die Sommernächte besonders – die lächerlich wenigen gestohlenen Momente, die sie für sich hatten, vergrößerten ihre Sehnsucht und ließen sie beide umso hungriger nach Nähe zurück.

Pünktlich um fünf Uhr morgens begann der Unterricht in der zugigen Bibliothek des Schlosses. Zu ihrer maßlosen Enttäuschung durfte Elin nicht daran teilnehmen.

»Ärgern Sie sich nicht, Fräulein Elin«, tröstete Herr Freinsheim sie. »Sie werden noch genug Gelegenheit haben, mit Monsieur Descartes zu sprechen.«

Wie Recht der Bibliothekar mit dieser Vermutung hatte, durfte Elin schon in den nächsten Wochen erfahren. Denn obwohl der Philosoph von der Königin und ihrem Wissen begeistert war und der nächsten Unterrichtsstunde entgegenfieberte, schien Kristina ihn mit einem Mal vergessen zu haben und wies ihn an, die folgenden Wochen erst einmal dazu zu nutzen, sich in Stockholm einzuleben. Währenddessen wurde das Kesseltreiben der Gelehrten bei Hofe immer schlimmer. Gegen Descartes wurden Gerüchte geschürt. Er wurde angefeindet und beschuldigt, atheistische Lehren zu verbreiten. Unterlagen verschwanden, gefälschte Briefe waren im Umlauf. Gekränkt zog sich Descartes schließlich in die Botschaft zurück.

»Diese Königin hat alles gesehen, alles gelesen – ihr Geist ist wirklich außerordentlich und sie weiß alles!«, bemerkte er, als er mit Freinsheim, Henri und Elin am Tisch saß. »Aber sie geht mit Menschen so um wie mit Büchern, die sie sich beschafft und in ihrer Bibliothek abstellt. Offenbar sammelt sie Wissenschaftler wie andere Leute Kuriositäten.«

Elin schwieg, aber insgeheim gab sie dem Philosophen Recht. In letzter Zeit war das Verhältnis zwischen Kristina und ihr noch angespannter geworden. Es war beinahe so, als hätte ihre Liebe zu Henri die feste Mauer der Freundschaft zu Kristina an einigen Stellen beschädigt. Steinchen für Steinchen löste sich, Lücken wurden sichtbar, durch die Elin jetzt Details wahrnahm, die sie früher nicht gestört hatten. Umso schöner waren die Abende im obersten Stock der Botschaft, wo Descartes Henri und ihr mit dem Blick auf einen samtfarbenen und diamantbestickten Himmel den Lauf der Gestirne erklärte, über Astronomie und Arithmetik sprach und neue Welten der Vernunft und des Verstandes an den Himmel malte, die alle nach mathematischen Prinzipien erfasst werden konnten. Verstohlen betrachtete Elin Henris Gesicht, wenn er in den Himmel schaute – und er gefiel ihr besser denn je. Doch auch mit Henri ging in diesen Wochen eine Veränderung vor. Er war schweigsamer geworden und grübelte viel vor sich hin. Seinen Kummer wollte er Elin nicht verraten, und so erklärte sie sich sein Verhalten mit den langen dunklen Nächten und der Einsamkeit in der verwaisten Botschaft.

Nach und nach verlor sie ihre Scheu vor Descartes und kam zu dem Schluss, dass er ein liebenswürdiger und väterlicher alter Mann war – ein wenig verhärtet durch sein Schicksal, aber ein unerschütterlicher Menschenfreund. Nur wenn er von der menschlichen Maschine sprach, erinnerte sich Elin an Emilia und zweifelte daran, dass der Mensch wie ein Uhrwerk repariert werden konnte. Verstohlen strich ihr Henri dann über den Arm.

Als hätte das Kesseltreiben gegen Descartes auch den Blick auf Elin gelenkt, flammten überraschend die Gerüchte über sie und Henri wieder auf – erst unmerklich, schließlich immer offener. Schmähbriefe machten die Runde, und einige Wissenschaftler, die Elins Dienste bis vor kurzem hoch geschätzt und sie für ihre Wissbegierde gelobt hatten, weigerten sich nun, sie zu unterrichten. Ganz offen ließ Tervué in der Bibliothek unverschämte Bemerkungen fallen, mit denen er darauf anspielte, dass Elin als Descartes’ Spionin arbeite. An dem Tag, an dem das erste Mal offen das Wort »Franzosenhure« fiel, klopfte es energisch an der Tür zu Elins Gemach, in das sie sich geflüchtet hatte. Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete Kristina die Tür und trat ein. Instinktiv verbarg Elin den noch verschlossenen Brief, den ihr Henri hatte zukommen lassen, hinter dem Rücken.

»Nun?«, sagte Kristina barsch. »Gibst du deinen Feinden Recht, indem du dich hier verkriechst?«

»Und Sie?«, konterte Elin. »Lassen Sie meinen Feinden freie Hand, indem Sie die Beleidigungen überhören?« Sie ärgerte sich darüber, wie kläglich ihre Stimme klang, und hoffte, der Königin würden ihre geröteten Augen nicht auffallen. Mit wenigen Schritten war Kristina bei Elins Bett und ließ sich darauffallen.

»Deshalb bin ich hier«, sagte sie. »Weil ich mich nicht länger taub stellen kann. Und weil ich dir gegenüber nicht länger stumm bleiben will.« Sie machte eine Pause, in der sie sich ein weiteres Kissen heranzog und unter ihren Kopf schob. »Du hast mir besser gefallen, als du Henri noch gehasst hast«, meinte sie schließlich in freundlichem Plauderton. »Erinnerst du dich noch an den Brief, den ich Monsieur Descartes vor einem Jahr geschrieben habe? Wir diskutierten darüber, was den größeren Schaden verursacht: falsch angewendete Liebe oder Hass. Nun, ich sagte ihm, meiner Meinung nach sei es die Liebe. Diese Leidenschaft führt uns zu weit größeren Exzessen. Denn der Hass richtet sich nur auf das gehasste Objekt, während die gestörte Liebe nichts verschont – nur ihr Objekt. Allen anderen um sie herum schadet sie ohne Bedenken.«