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Endlich schien sich auch Kristina an den eigentlichen Grund zu erinnern, warum sie den Philosophen nach Stockholm berufen hatte, und bestellte ihn zum Unterricht in die Bibliothek. Descartes blühte bei dieser Nachricht auf wie eine Winterrose und war am Morgen schon um vier Uhr hellwach. Als ihn Elin um halb fünf Uhr bei der Botschaft abholte, war sie überrascht, dass er ihr persönlich öffnete – fertig angekleidet, herausgeputzt und reisebereit. Beherzt schritt er durch den frisch gefallenen Schnee. »Auf zur Methode!«, rief er, sobald er Platz genommen hatte. »Was werden Sie heute machen, Mademoiselle? Reiten Sie aus?«

»Oh nein. Mein Pferd lahmt leider immer noch ein wenig – ein Ausritt würde ihm nur Schmerzen bereiten.«

Descartes winkte ab und rieb sich die klammen Hände.

»Sie wissen doch: Tiere haben keine Seele und somit auch keine Empfindungen. Diese vermeintlichen Schmerzenslaute sind nichts anderes als das Quietschen eines schlecht geölten Wagenrads und somit ohne Bedeutung.«

»Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie jemals das Stöhnen eines verwundeten Tieres gehört hätten.«

Er zeigte ihr ein breites Lächeln, das in ein Gähnen überging, und schüttelte den Kopf.

»Ich wusste, in Ihnen steckt keine besonders begabte Philosophin, dafür sind Ihre mathematischen Fähigkeiten umso bemerkenswerter. Aber natürlich steht es Ihnen frei, an allem zu zweifeln – auch an den Worten eines Philosophen.«

Elin sah Kristina an diesem Morgen nur kurz – und wenn sie ehrlich war, war sie froh darum, die Königin nicht sprechen zu müssen. Stattdessen betrat sie ihr kaltes Gemach, das ihr in den vergangenen Monaten immer fremder geworden war. Sie rief keinen Diener, um Feuer im Kamin zu machen, sondern erledigte diese Arbeit selbst. Auf dem Tisch hatte sich Staub angesammelt und die Fensterscheiben waren über und über mit Eisblumen bedeckt. Stumm setzte sich Elin an den Kamin und betrachtete ihr Porträt, das darüber hing. Ein wenig erinnerte die grünäugige Frau auf dem Bild heute an eine spöttische Jagdgöttin. Allerdings an eine, die nicht besonders glücklich aussah. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich Elin endlich dazu aufraffte, sich an den Tisch zu setzen und nach der Feder zu greifen. Diese Zeilen würden sie mehr Arbeit kosten als alle Briefe, die sie jemals an Emilia geschrieben hatte. Nie hätte sie gedacht, wie viel Mut es erforderte, Hampus zu erklären, dass sie ihn niemals heiraten werde – auch wenn sie ihn als Freund liebte und es aus Vernunftgründen sicher die bestmögliche Verbindung wäre. Als sie nach einer Ewigkeit endlich den letzten Punkt setzte, stellte sie erstaunt fest, dass sie zwölf Seiten geschrieben hatte. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, faltete sie den Papierstapel und versiegelte ihn. Dann machte sie sich auf den Weg zu Herrn Freinsheim. Sie fand den Bibliothekar in seinen Privatgemächern, wo er auf einer Leiter stand und gerade dem Wissenschaftler Herrn Gesenbek einen dicken Band aus der obersten Regalreihe reichte.

»Guten Morgen«, sagte sie. Gesenbek gönnte ihr nur einen kurzen feindseligen Blick und riss das Buch an sich, als würde er befürchten, dass sie es ihm entreißen wollte. Mit einem unverständlichen Brummen bedankte er sich bei Freinsheim und entfernte sich hastig.

Der Bibliothekar stieg von der Leiter und lächelte Elin zu.

»Nimm es ihm nicht übel. Seit die Königin bei Herrn Descartes Unterricht nimmt, fürchten so einige der Herren, dass die klassischen Wissenschaften am Hof bald nichts mehr gelten und somit auch ihre Posten überflüssig werden könnten. Was hast du da?«

»Einen Brief an Hampus«, antwortete Elin leise. »Ich möchte Sie bitten, ihn einem der Sendboten mitzugeben.«

Freinsheim nickte und nahm das Schreiben an sich.

»Ist die Königin noch beim Unterricht?«, fragte er dann.

»Oh ja – die Tür zur Bibliothek ist noch verschlossen.«

»Nun, falls du die Königin vor mir siehst, richte ihr doch bitte aus, dass ich sie darum ersuche, mir heute ein paar Minuten ihrer Zeit zu schenken.« Etwas beunruhigte Elin am betont munteren Tonfall von Freinsheims Stimme. Seine tiefen Falten auf der Stirn sprachen eine ganz andere Sprache.

»Was ist, Herr Freinsheim?«, fragte sie geradeheraus. »Sie machen sich Sorgen – worüber?«

Der Bibliothekar seufzte und rieb sich müde die Augen.

»Ach, das Übliche«, murmelte er. »Es geht um Herrn Descartes. Irgendjemand hier im Hause gibt sich große Mühe, immer neue Schmähungen und Gerüchte zu verbreiten. Neuerdings heißt es sogar, Descartes habe vor, die Königin dazu zu überreden, einen Großteil der Wissenschaftler am Hof zu entlassen.«

»Was? Das ist doch Unsinn!«

»Das wissen wir beide – aber sag das jemandem wie Herrn Gesenbek, der ernsthaft um seine Existenz fürchtet. Und es ist nun einmal leider wahr, dass Monsieur Descartes mit Kritik gegenüber den Sprachwissenschaftlern und anderen Gelehrten nicht gerade geizt.«

»Das stimmt allerdings«, gab Elin zu. »Aber er macht es nicht, um die anderen vor den Kopf zu stoßen. Er scheint sich nicht bewusst zu sein, wie viele Feinde er sich mit seiner Offenheit schafft. Ich werde mit ihm reden.«

»Tu das«, seufzte Herr Freinsheim. »Tu das.«

Wie begründet Freinsheims Sorge war, wurde Elin klar, als sie bei der Bibliothek ankam. Mehrere Wissenschaftler und Sekretäre hatten sich dort eingefunden und warteten darauf, die Bibliothek betreten zu können. Elin fühlte sich unbehaglich und betrachtete die Männer aus sicherer Entfernung. Sie sah missgünstige und besorgte Gesichter und hörte Getuschel und gezischte Gerüchte. Tervué brütete dumpf vor sich hin und Herr Gesenbek sah todunglücklich aus und hielt das schwere Buch an seine Brust gepresst, als wäre es ein schützender Schild. Endlich ging die Tür der Bibliothek auf und eine strahlende Kristina betrat den Gang, gefolgt von Descartes.

»Ah, die Herren warten schon!«, rief sie den Wissenschaftlern zu. Dann wandte sie sich sofort wieder Descartes zu und verabschiedete ihn herzlich. Elin schauderte, als sie den Blick bemerkte, mit dem Tervué den Philosophen musterte. Blanker Hass blitzte darin auf.

Elins Gespräch mit Descartes hatte nicht den gewünschten Erfolg. Der Philosoph lächelte über ihre Besorgnis und schüttelte nur nachsichtig den Kopf.

»Die Wahrheit hört nun einmal niemand gerne«, sagte er leichthin. »Und ein Raum voller Wissenschaftler ist immer auch eine Schlangengrube. Lassen Sie die Bestien zischen!« Seit die Königin ihn zum Unterricht ins Schloss bat, hatte sich seine Schwermut merklich gebessert.

Mitten im kältesten Januar seit langem erhitzte dann ein neuer Skandal die Gemüter. Kristina bot Descartes ganz offiziell an, Präsident der Königlich Schwedischen Akademie zu werden, die sie schon seit längerem zu gründen plante. Nun liefen nicht nur die Wissenschaftler gegen Descartes Sturm, sondern auch die lutherische Geistlichkeit. Doch diesmal schienen die Schmähreden, die hämischen Kommentare und die feindseligen Blicke Descartes’ Segel nur zu blähen wie ein lange erwarteter Wind nach einer Flaute. Voller Eifer machte er sich daran, die Statuten für die Akademie zu entwerfen.

In diesen Tagen pfiff der Schneesturm durch die Gassen. Im Haus des Botschafters hallte dumpfes Husten durch die Gänge. Monsieur Chanut erkrankte an einer Lungenentzündung und schwebte einige Tage zwischen Leben und Tod.

Fräulein Ebba, aber auch Freinsheim kamen zu Besuch, außerdem Tervué, Gesenbek und andere Wissenschaftler. Selbst Axel Oxenstierna zeigte sich besorgt und ließ dem Botschafter Genesungswünsche ausrichten. Monsieur Chanut gelang das Kunststück, von allen – ob Katholiken oder Protestanten – gleichermaßen geschätzt zu werden. Nachts wachte Descartes am Bett seines Freundes und ging morgens unausgeschlafen und mit grauem Gesicht wieder an die Arbeit oder zum Unterricht ins Schloss. Es verwunderte kaum jemanden, als er ebenfalls erkrankte und Anfang Februar das Bett hüten musste. Zwei Tage schlief er wie ein Bewusstloser. In den wenigen Stunden, die er wach war, weigerte er sich zu essen oder zu trinken.