»Mir ist übel, Fräulein Elin«, flüsterte er. »Schaffen Sie das Essen aus meinem Blickfeld!«
Am dritten Tag waren alle im Hause Chanut so besorgt, dass Elin ins Schloss ging und die Königin bat, van Wullen ins Haus des Botschafters zu schicken. Zu ihrer Erleichterung ließ die Königin die Sekretäre warten und hörte sich Elins Anliegen an.
»Das klingt wirklich nicht gut«, murmelte sie, nachdem Elin Bericht erstattet hatte. »Natürlich muss van Wullen ihn untersuchen. Aber wie ich Monsieur Descartes kenne, wird er darauf bestehen, sein eigener Arzt zu sein.«
»Im Moment wird er kaum in der Lage sein, sich dagegen zu wehren«, antwortete Elin. Gerade wollte sie sich schon zum Gehen wenden, als Kristinas Stimme sie zurückhielt. »Ach, hast du übrigens schon die Neuigkeiten aus dem Haus de Vaincourt gehört?«
Elin erstarrte. Kristina blätterte in einem Buch und seufzte. »Der alte Marquis ist gestorben«, sagte sie. »Vor einem Monat bereits. Es tut mir sehr Leid um den Haudegen – er war zwar nicht der netteste Mensch, aber sicher einer der besten Strategen, die ich kannte. Ich dachte, es interessiert dich vielleicht.«
»Sie irren sich, Kristina«, sagte Elin leise. »In erster Linie interessiert mich nicht meine Vergangenheit, sondern Herrn Descartes’ Zukunft.«
In dem Maß, in dem Monsieur Chanut genas, verschlimmerte sich Descartes’ Zustand. Nach der langen Bewusstlosigkeit war er nun hellwach und unruhig, sein Blick irrte umher. Elin tat dieser Anblick im Herzen weh. Innerhalb weniger Tage war er entsetzlich abgemagert und hatte sich von dem stolzen Philosophen in einen störrischen alten Mann verwandelt, der unendlich litt. Van Wullen, der mit Elin den Kranken besuchte, warf einen kurzen Blick auf ihn und runzelte die Stirn. Entschlossen stellte er seinen Koffer auf dem Tisch ab. Skalpelle und Rippenheber klirrten. Descarte setzte sich mühsam im Bett auf. Seine Augen waren fiebrig und gerötet.
»Kein Aderlass«, befahl er mit schwacher Stimme. »Schonen Sie französisches Blut!« Und zu Elin gewandt flüsterte er matt: »Wenn ich schon sterben muss, dann bitte ohne einen Arzt in meiner Nähe.« Van Wullen wurde blass, aber er ließ sich seine Wut nicht anmerken.
»Sie werden nicht sterben«, erwiderte Elin.
Descartes ließ sich zurück in die Kissen sinken und schloss die Augen. Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab.
»Ich möchte noch ein oder zwei Tage abwarten, um die Krankheit auszubrüten. Meist kommt die Krisis nach sechs Tagen – und wenn ich sie überwunden habe, wird es besser.«
Aber es wurde nicht besser, im Gegenteil! Descartes’ Zustand verschlechterte sich in den nächsten Tagen rapide. Ein plötzliches Fieber schüttelte ihn so stark, dass Elin kaum wagte, ihn alleine zu lassen, um in ihren Aufzeichnungen und Büchern nach dem Grund dieser Krankheit zu forschen. Sie verlief ganz anders als die Lungenentzündung, die Monsieur Chanut inzwischen überwunden hatte. Der Philosoph klagte über Schwindel, sein Blick war so unstet, dass er nirgendwo mehr Halt fand. Erst am siebten Tag ließ er es zu, zur Ader gelassen zu werden, eine Behandlung, die Elin mit gemischten Gefühlen verfolgte. Monsieur Tervué erkundigte sich mehrfach nach Descartes’ Gesundheitszustand. Und auch die anderen Gelehrten, darunter der Mathematiker Björn Strat und sogar der lutherische Theologe Kasimir Bielke, machten Monsieur Chanut ihre Aufwartung. Elin beobachtete die Gelehrten mit Unbehagen. Wie eine Horde von Krähen schienen sie über dem Lager ihres Konkurrenten zu kreisen. Die Spannung, die über dem Haus lag, wurde immer unerträglicher. Streit wallte auf, kaum eine Stunde verging ohne Diskussionen und Dispute.
Elin zog sich so oft wie möglich aus dem Empfangszimmer zurück. Mit der Erlaubnis von Monsieur Chanut setzte sie sich in dessen Arbeitszimmer, wo sie manchmal nichts anderes tat, als den Kopf in die Hände zu stützen und die Augen zu schließen, bis ihre wirbelnden Gedanken ein wenig zur Ruhe kamen.
An einem dieser chaotischen Tage klopfte ein Bote an die Tür und übergab Madame Chanut einen Brief. Elin, die nach einer langen Nacht an Descartes’ Krankenbett gerade in einem Sessel ausruhte, blickte von ihrem Becher mit heißem Wein auf. Seit Henris Abreise hatte Madame Chanut sicher schon vier Briefe von der Familie de Vaincourt erhalten, aber Elin hatte nie zu fragen gewagt, was darin stand. Dieser hier war erstaunlich dick und Elin sackte schon bei seinem Anblick das Herz in den Bauch.
Diesmal öffnete Madame Chanut das Schreiben in Elins Gegenwart. Ein kleinerer Brief rutschte heraus, den Madame Chanut gerade noch auffangen konnte, bevor er zu Boden fiel. Mit gerunzelter Stirn las sie das größere Schreiben. Für Elin dehnten sich diese Minuten zu einer Ewigkeit. Sie wusste, dass sie heute fragen würde – gleichgültig, ob die Nachricht von Henris Hochzeit ihr das Herz brach. Alles war besser als die Ungewissheit! Endlich hob Madame Chanut den Blick. Elin wusste nicht, ob es ein wissendes oder mitleidiges Lächeln war, das um die Lippen der Diplomatenfrau spielte.
»Für Sie, Elin!« Die Französin streckte ihr den kleineren Brief, der noch versiegelt war, entgegen.
Da war es – das kalte Fieber. Es ergriff Elin von einem Moment zum anderen, Eis in ihrer Kehle, Frost in ihrem Genick. Statt den Brief anzunehmen, klammerte sie sich an den Weinbecher und schüttelte krampfhaft den Kopf.
»Nein, bitte«, brachte sie schließlich mit kläglicher Stimme heraus. »Ich kann nicht. Würden … Sie ihn mir vorlesen?«
Madame Chanut zog eine Augenbraue hoch, doch dann öffnete sie das Schreiben und faltete es auseinander. In ihrem melodiösen Französisch begann sie zu lesen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie den Sinn der Worte erhaschte, bevor sie den Satz ausgesprochen hatte:
»Meine liebe Tochter,
sicher hast Du von dem Schicksalsschlag gehört, der vor kurzem unsere Familie erschütterte. Längst sind noch nicht alle Angelegenheiten geordnet, aber wir blicken trotz aller Trauer vertrauensvoll in die Zukunft. Ich freue mich darauf, Dich bald in die Arme zu schließen und in unser Heim aufzunehmen.
Herzlichst,
Charlotte de Vaincourt«
Die Stille, die auf diese Worte folgte, dröhnte in Elins Ohren. Madame Chanut kniff die Augen zusammen und ließ den Blick zum Ende des Briefs schweifen.
»Oh – ich sehe gerade: Henri hat auch noch eine Notiz hinzugefügt: ›Genügt das als Beweis, Küchenkönigin? ‹«
Sie ließ das Blatt sinken und betrachtete Elin amüsiert.
»Und?«, fragte sie. »Genügt es?«
»Er hat nicht geheiratet«, flüsterte Elin.
»Nein, geheiratet hat er nicht«, bestätigte Madame Chanut. »Aber ich denke, es ist eindeutig, dass er es noch vorhat. Wie ich hörte, befindet er sich bereits auf dem Weg nach Stockholm.«
Elin schluckte und starrte gedankenverloren in ihren Weinbecher. Tausend Nächte, so schien es ihr, hatte sie davon geträumt, aber jetzt fühlte sie nur eine seltsame Erleichterung.
In der roten Flüssigkeit spiegelte sich ihr Gesicht. Krank sah es aus, und unendlich müde.
»Der Wein!«, rief sie plötzlich. Der Gedanke blitzte so abrupt auf, dass er Henri und den Brief für einen Moment beiseite wischte. Im nächsten Augenblick rannte sie an der verdutzten Madame Chanut vorbei zur Treppe. Descartes war aufgewacht und litt schreckliche Qualen. Er hatte sich erbrochen. Klumpen von schwarz verfärbtem Blut tränkten die Decke, schwarzer Speichel rann ihm aus dem Mund. Er atmete unregelmäßig und sein Blick irrte hektisch hin und her.