Johann van Wullen stand mit hängenden Schultern an seinem Bett. Ohne auf die Gebote der Höflichkeit zu achten, stürzte Elin zu ihm und zog ihn am Ärmel zum Fenster.
»Es ist der Wein«, flüsterte sie. »Er ist vergiftet! Gestern hat er welchen getrunken – er wurde ihm in einem Becher gebracht, der unten zubereitet wurde und dort stand, wo alle Gäste ihn erreichen konnten. Vermutlich bekommt er das Gift schon seil einigen Tagen verabreicht.«
Der Leibarzt zog die Brauen zusammen, bis sie sich über seiner Nasenwurzel berührten.
»Was sagen Sie dazu?«, flüsterte sie. Van Wullen blinzelte nicht einmal, als er ihr die Antwort gab.
»Ich habe den Patienten aufgegeben«, sagte er sehr sachlich. »Seine Schmerzen kann ich versuchen zu lindern, ansonsten halte ich meine Hand von ihm fern.« Seine Stimme wurde leiser und bekam einen warnenden Unterton. »Und wenn Sie klug sind, Fräulein Elin, dann lassen Sie einen solchen ungeheuren Verdacht nicht verlautbaren. Eine Vergiftung lässt sich nicht beweisen.«
Fassungslos starrte Elin ihn an.
»Aber sehen Sie ihn sich doch an!«, beharrte sie. Der Arzt war blass geworden und sah mit einem Mal sehr erschöpft aus. Elin hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Es schnürte ihr die Kehle zu, auszusprechen, was ihr endlich klar wurde.
»Sie wissen es längst.«
»Manchmal weiß oder vermutet ein Arzt einiges, aber aus Gründen der Staatsräson muss er Stillschweigen bewahren. Vor allem, wenn es sich um bloße Vermutungen handelt.«
Van Wullen wandte sich brüsk ab, packte seine Instrumente ein und verließ das Zimmer. Elin blieb zurück – gefangen im Chaos ihrer eigenen Geschichte und mit Monsieur Descartes’ Leben, das ihr durch die Finger rann. Sobald sie Descartes’ Leibburschen damit beauftragt hatte, neues Feuerholz und frische Tücher zu holen, kniete Elin sich neben das Bett und zwang den Philosophen sie anzuschauen.
»Monsieur Descartes! Verstehen Sie mich?«
Schwach nickte er.
»Gut. Hören Sie mir genau zu. Ich habe den Verdacht, dass jemand versucht Sie zu vergiften. Ab heute nehmen Sie nur noch den Wein zu sich, den ich Ihnen bringe. Und ebenso ist es mit dem Wasser, dem Brot und den anderen Speisen. Haben Sie verstanden?«
Descartes zog einen Mundwinkel hoch und schluckte schwer. Er musste mehrere Versuche machen, bevor er endlich seinen Satz herausbrachte: »Ich werde diesen Feind austreiben. Bringen Sie mir Wein, vermischt mit Tabak.«
Lars wunderte sich nicht, als Elin im Stall erschien und ihn um einen Gefallen bat. Der sonst so laute und harsche Stallmeister hörte sich ihren geflüsterten Verdacht an und nickte. »Einverstanden. Dann werde ich mich auf Mäusejagd begeben. Wo ist das Brot?«
Elin reichte ihm das befleckte Taschentuch, in dem sie das in Wein getunkte Brot aus Descartes’ Kammer aufbewahrte.
»Wasch dir die Hände, nachdem du das Brot angefasst hast«, ermahnte sie ihn. »Ich habe damit den Rest aus Descartes’ Weinbecher aufgesaugt.«
»Weiß die Königin es schon?«
»Noch nicht, aber ich gehe gleich jetzt ins Schloss, um mit ihr zu reden.«
Da Kristina an diesem Tag nicht zu sprechen war, beschloss Elin, stattdessen Freinsheim einzuweihen, und bat ihn, unter strengster Geheimhaltung die Königin zu informieren. Die Chanuts sagten allen Besuchern ab, nur Elin blieb in der Botschaft und wachte Tag und Nacht an Descartes’ Bett. Hier, in der Dunkelheit, in der sie nur die unregelmäßigen, gequälten Atemzüge des Kranken hörte, kam sie zum ersten Mal seit Monaten wirklich zur Ruhe. In Gedanken ließ sie jeden Besucher der letzten zehn Tage noch einmal Revue passieren. Tervué natürlich, mindestens sechs weitere Wissenschaftler, ausländische Gäste aus Tre Kronor, ja selbst Doktor van Wullen hätte Descartes unbemerkt ein Gift verabreichen können, obgleich Elin beim besten Willen nicht wusste, was ihm der Tod des Philosophen nützen könnte. Bei den Wissenschaftlern lag die Antwort dagegen auf der Hand. Descartes hatte sich seit seiner Ankunft in Stockholm viele Feinde gemacht.
Dann gab es noch den Hauskaplan und die Bediensteten – jeder hätte sie bestechen können, das Gift zu verabreichen. Niedergeschlagen lehnte sich Elin in ihrem Sessel zurück und schloss die Augen. Seit Tagen hatte sie kaum geschlafen und nun glitt sie langsam in einen Dämmerschlaf hinüber. Henri hatte nicht geheiratet – und hier, neben einem Kranken, in der größten Sorge, schlich sich unbemerkt die Freude darüber an, dass ihr Geliebter auf dem Weg nach Stockholm war.
Van Wullen hatte mit seiner Prognose Recht gehabt. Elin wusste es, noch bevor sie die Augen öffnete. Als sie am zehnten Tag von Descartes’ Erkrankung mit steifen Gliedmaßen im Sessel erwachte, war das rastlose Atmen verstummt. Stattdessen hörte Elin nur noch das Kratzen einer Feder.
»Gegen vier Uhr hat er Gott seine Seele zurückgegeben«, sagte van Wullen. Aschgrau im Gesicht saß er am Tisch neben dem Fenster, wo er einen Brief schrieb. »Ich wollte Sie nicht wecken.«
Obwohl Elin es insgeheim erwartet hatte, war der Schmerz über den Verlust heftig und unerwartet.
»Sie wissen, dass er nicht an einer Lungenentzündung gestorben ist«, flüsterte sie. »Sie müssen es bezeugen, damit der Mörder gefunden wird!«
Van Wullen legte die Feder nieder und knetete seine Hände, als würden sie schmerzen.
»Ich werde gar nichts bezeugen. Und nun lassen Sie mich meinen Brief an einen Freund in Holland zu Ende schreiben.« Beim Blick in Elins Gesicht seufzte er und tippte viel sagend auf das zur Hälfte beschriebene Papier. »Es kommt nicht darauf an, was wir wissen«, sagte er eindringlich. »Wer wissen will, wird zwischen den Zeilen lesen.«
Die Königin war blass und hatte verquollene Augen. Bei der Todesnachricht war sie in Tränen ausgebrochen. Nun betrachtete sie angewidert den Eimer, den Elin zu ihrer Unterredung mitgebracht hatte. Elin hob das Gitter, mit dem der Eimer abgedeckt war. Die Maus lag verendet am Boden – ihre verkrampften Gliedmaßen zeigten, dass der Tod qualvoll gekommen war.
»Was soll ich nun mit dem Vieh?«, fragte Kristina.
»Sie hat das gefressen, was Monsieur Descartes am sechsten Tag seiner Krankheit zu sich genommen hat. Er wurde vergiftet.«
»Und das beweist du mit einer einzigen Maus? Nicht sehr wissenschaftlich.«
Elin wurde rot.
»Ich weiß«, gab sie zu. »Ich hatte Lars gebeten, mindestens zwei Mäuse zu fangen, um zu sehen, ob sie beide eingehen, aber die zweite ist leider entwischt.«
»Dann tut es mir Leid, Elin«, erwiderte Kristina eine Spur zu schnell. »Das reduziert deinen Beweis zu einer reinen Vermutung.«
»Aber der Auswurf hier …«
»Guter Gott, die Maus kann an allem Möglichen verreckt sein – vielleicht war sie bereits krank. Dafür spräche, dass Lars schnell genug war sie zu fangen. Oder sie hat vor Schreck Krämpfe bekommen. Jemand könnte sie sogar im Stall unbemerkt erschlagen haben.«
»Dennoch – Descartes’ Symptome sprachen nicht für eine Lungenentzündung. Und selbst wenn er erkältet gewesen ist, könnte jemand seine geschwächte Konstitution ausgenutzt haben, um ihm das Gift in mehreren Dosen zu verabreichen. Sie waren nicht da, Majestät – aber seit seiner Erkrankung gaben sich die Gelehrten in der Botschaft seltsamerweise plötzlich die Klinke in die Hand.«
»Nur weil es möglicherweise ein Motiv gibt, heißt das noch lange nicht, dass es auch eine Tat geben muss.«
»Eben deshalb muss der Todesfall genauer untersucht werden«, beharrte Elin. »Ich habe bereits eine Liste der Gäste erstellt und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass sowohl Monsieur Tervué als auch Herr Gesenbek …«
Kristina hob abwehrend die Hand. Sie war noch blasser geworden und stützte sich mit der anderen Hand schwer auf die Lehne des Stuhls, neben dem sie stand. »Doktor van Wullen hat ein offizielles Kommunique verfasst und darin bestätigt, dass Monsieur Descartes an einer Lungenentzündung verschieden ist«, sagte sie mit Nachdruck. »Das ist auch mein letztes Wort.«