Elin kam sich vor, als wäre sie soeben in vollem Lauf gegen eine Mauer geprallt. Benommen stand sie da und begriff nur langsam. In diesem Augenblick, als die Enttäuschung sie überschwemmte wie eine kalte Woge, fühlte sie sich auf Tre Kronor nicht länger zu Hause. Sie hob das Kinn und warf der Königin einen herausfordernden Blick zu. Es wunderte sie, wie ruhig ihre Stimme klang.
»Sie sprechen so mutig, Majestät, wenn es um Tugend und Freiheit und Gerechtigkeit geht – um die Pflichten eines Fürsten gegenüber seinem Volk. Aber wo sind die mutigen Taten, wenn es darum geht, einen Tod zu rächen?«
»Ich handle damit durchaus zum Wohl meiner Untertanen«, erwiderte Kristin^ ebenso ruhig. »Ein Wissenschaftler kommt in meine Obhut und wird vergiftet. Begreifst du denn nicht, was das bedeuten würde?«
»Ich begreife sehr wohl.«
»Nein, du begreifst es ganz und gar nicht. Ich werde nicht zulassen, dass mein Hof in Europa als Mördergrube bekannt wird. Nicht nur, dass es einen Skandal gäbe, es würde auch politische Verstrickungen nach sich ziehen, deren Konsequenzen wir uns besser nicht vorstellen.«
»Sie schützen also den Ruf Ihrer Gelehrten zum Preis von Monsieur Descartes’ Leben und nennen es Pflicht.«
»Du bist nicht mein Richter!«, schrie die Königin sie mit einem Mal an.
Ihre blauen Augen glühten vor Zorn. Mit einer blitzschnellen Handbewegung griff sie nach dem Tintenfass auf dem Tisch. Es geschah so schnell, dass Elin nicht reagieren konnte und erschrocken stehen blieb. Das Fass verfehlte ihre Schulter nur knapp, zerschellte an der Holztäfelung der Tür und hinterließ eine schwarz blutende Wunde. Für ein paar Sekunden war Ruhe, dann richtete sich Kristina sehr gerade auf und biss sich auf die Lippen. Elin fühlte sich, als wäre gerade der letzte Faden, der sie beide noch verband, gerissen. Der Spiegel war zersplittert – und mit ihm Elins Spiegelbild. Sie betrachtete Kristina und sah nur noch eine Fremde.
»Ich verbiete dir, über diese Angelegenheit zu sprechen«, sagte die Königin leise. »Schwöre es!«
Elin senkte den Kopf und dachte an Doktor van Wullens verschlüsselten Brief.
»Wenn ich das schwöre, kann ich unmöglich länger am Hof bleiben. Erlauben Sie mir, das Land zu verlassen.«
»Wo zur Hölle willst du hin?«
»Nach Frankreich. Zu … Henri de Vaincourt.«
»Sieh an.« Jetzt war es die Königin, die ihre Betroffenheit kaum verbergen konnte. »Bedenke, er ist keine besonders gute Partie mehr, seit sein Vater ihn noch auf dem Sterbebett enterbt hat. Er kann von Glück sagen, dass ihm ein Onkel mütterlicherseits noch etwas hinterlassen hat.«
»Das ist mir gleichgültig, Majestät. Ich habe mich soeben dazu entschlossen, sein Heiratsangebot anzunehmen.«
»Elin, du bist mein Mündel – und noch nicht einmal volljährig.«
»Ich werde schweigen, aber ich will das Land verlassen«, beharrte Elin. Die Königin erschien ihr mit einem Mal noch kleiner. Verletzlichkeit schimmerte durch die herrische Fassade. »Und was ist mit Italien? Eines Tages – und vielleicht früher, als man denkt – werde ich meine Rolle hier zu Ende gespielt haben und Schweden verlassen. Du hast mir versprochen, mich zu begleiten.«
Nun konnte sich Elin ihren Sarkasmus nicht verkneifen.
»Ich war jung, als ich das Versprechen gab.«
Kristina zog die Luft scharf durch die Nase ein und hob das Kinn. »Überlege es dir gut. Wenn du jetzt gehst, werden sich unsere Wege für immer trennen.«
Elin schluckte. Gegen ihren Willen stiegen ihr Tränen in die Augen. »Das weiß ich, Majestät.«
»Mein Gott«, sagte Kristina mit einer Stimme, die nun vor Verachtung und verletztem Stolz bebte. »Du bist tatsächlich eine gewöhnliche Frau geworden – allzu gewöhnlich. Wie konnte ich nur jemals denken, du wärest mir ähnlich!« Sie sah Elin an, als wartete sie verzweifelt auf etwas – eine Entschuldigung, einen Widerspruch vielleicht. Doch Elins Schweigen war Antwort genug. »Dann verschwinde!«, schrie Kristina. »Lass mich allein – folge der Liebe, wenn du dich unbedingt unglücklich machen willst!«
Elin krampfte ihre Finger ineinander, um Kristina nicht zu zeigen, wie sehr ihre Hände zitterten.
»Wie Sie befehlen, Majestät. Aber vorher möchte ich noch den Wunsch geltend machen, dessen Erfüllung Sie mir versprochen haben, als ich an Ihrer Stelle verwundet wurde.«
»Was willst du?«
Elin holte tief Luft und nahm all ihren Mut zusammen.
»Meine Papiere«, sagte sie mit fester Stimme. »Alle Unterlagen, die in Kester Levens Besitz sind.«
Tag für Tag ging Elin in der Botschaft auf und ab, räumte ihre Bücher von einer Truhe in die nächste und konnte vor Ungeduld kaum schlafen. Auch jetzt war es wieder Lovisa, die bei ihr war, obwohl sie Elins Entscheidung, Henri zu heiraten, ebenso wenig billigte wie Kristina.
»Ach Kind«, seufzte sie nur. »Ich wünsche dir alles Glück der Welt – aber ein wenig mehr Besonnenheit würde dir das Leben leichter machen. Was wirst du denn nur ohne mich machen?«
Meistens aber verbrachten sie die Nachmittage in der Botschaft ohne viele Worte. Nach und nach ließ Lovisa Elins persönliche Habe in die Botschaft bringen und bereitete die Reise vor. Elin hielt sich in diesen Wochen am liebsten in ihrer Kammer auf. Madame Chanut hatte ihr das Gemach gegeben, in dem auch Henri vor einigen Monaten gewohnt hatte, und Elin schmiegte sich nachts in die Kissen und stellte sich vor, wie es sein würde, Henri wieder umarmen zu können. Längst waren die Gespenster aus ihren Träumen verschwunden, dafür war es nun Descartes, der sie nicht zur Ruhe kommen ließ. In einem Brief an Hampus hatte sie den Verlauf der Krankheit beschrieben – schließlich hatte sie Kristina geschworen, nicht über den Vorfall zu sprechen. Von Schreiben hatte die Königin dagegen nichts gesagt – und Hampus war ihr Freund. Beinahe ebenso sehr wie um den Philosophen trauerte Elin um ihre Freundschaft zu Kristina. Insgeheim hoffte sie, dass die Königin ebenfalls schlaflos in ihrem Gemach lag und über ihren Streit nachdachte. Trotz des Zerwürfnisses und Monsieur Descartes’ Tod, der immer zwischen ihnen stehen würde, fehlte ihr Kristina unendlich.
Nach dem langen Winter brach das Eis erst Anfang April und verwandelte das Hafenwasser in eine Ebene aus glitzernden Eistrümmern. Elin erinnerte dieser Anblick an einen Spiegel, der in tausend Scherben zerbrochen war, in denen sie nicht mehr Kristina, sondern nur noch Bruchteile ihrer eigenen Vergangenheit sah. Schiff um Schiff lief im Hafen ein, aber Henri kam nicht. In ihren Träumen sah Elin ihn von Wegelagerern überfallen, ausgeraubt, ertrunken bei einem Schiffbruch oder schwer erkrankt. Sie wagte kaum mehr, zu Enhörning und Lars zu gehen, aus Angst, seine Ankunft zu verpassen. Statt einer Nachricht von Henri brachte ein Bote Ende April einen Brief von Hampus. Elin bekam Herzklopfen, als sie ihn entgegennahm. Rasch entschuldigte sie sich bei den Chanuts, mit denen sie eben beim Souper saß, und eilte in ihre Kammer. Sie hatte Angst, den Brief zu öffnen, aber schließlich fasste sie Mut. Hampus’ schöne, regelmäßige Schrift zu sehen, war ein wenig so, als würde ihr Freund bei ihr sein. Der Brief war in einem sehr höflichen Ton gehalten, aber Elin konnte zwischen den Zeilen immer noch seine Enttäuschung und seinen Kummer hindurchschimmern sehen. Umso mehr liebte sie Hampus für seine Größe, ihr so herzlich und aufrichtig zu gratulieren.
Ich wünsche Dir und Henri tausend Nächte voller Sterne und Tage voller Rosenduft, Und ich hoffe, Euch beide eines Tages wieder zu sehen – wer weiß, wo sich unsere Wege kreuzen werden. Nur in Schweden, glaube ich, sicher nicht mehr …
Elin war so in diese Worte vertieft, dass sie nicht hörte, wie jemand leise an ihre Tür klopfte. Langsam schwang die Tür auf. Elin sprang von ihrem Stuhl hoch.