Obwohl es so früh war, dass sogar die Pferde in den Ställen noch schliefen, säumten Menschen die Straße, auf der sich der königliche Tross in Richtung Stockholm bewegte. Elin staunte darüber, wie anders die Welt durch das Fenster einer Kutsche aussah. Gleichgültige Mienen verwandelten sich in ehrfürchtige Gesichter, die Welt schien nur dafür da zu sein, sich den königlichen Karossen zuzuwenden und ihnen Platz zu machen. Alles Leben erstarrte für wenige Momente. Für Königin Kristina und den Hof, begriff Elin, lief die Zeit anders.
Sie fuhren ein Stück weit am Fyris-Fluss entlang und passierten die riesige Domkyrka, in die an jedem Wochentag die Wallfahrer strömten, um vor dem goldenen Schrein des Heiligen Erik zu beten. Elin erinnerte sich an die endlos langen Predigten und an die Kälte der Kirchenbänke, die unbarmherzig unter die Kleider kroch.
»Wenn du weiter an deinen Handschuhen herumzupfst, wirst du bald wieder frieren, weil die Fingerkuppen abreißen werden«, holte Frau Lovisas Stimme sie aus ihren Gedanken. Ertappt ließ Elin ihre Hände wieder in den Schoß sinken.
Die einzige Abwechslung, die die Fahrt bot, waren die Gespräche in der Kutsche. Ein wenig enttäuscht stellte Elin fest, dass sie sich kaum vom Tratsch in der Küche unterschieden. Man sprach über Königin Kristinas Verlobten, ihren Cousin Karl Gustav, und mutmaßte über einen möglichen Termin für die Hochzeit. Man überbot sich in Vermutungen und wusste dabei ebenso wenig darüber wie Olof, der Tischdiener.
»Wenn ihr mich fragt, hat er schon viel zu viel Geduld mit ihr gehabt«, sagte das dicke Mädchen, dessen Ellenbogen seit geraumer Zeit in Elins Seite drückte. »Immer wieder schiebt sie den Hochzeitstermin vor sich her.«
»Ich würde verstehen, wenn er es wäre, der sich ziert – oder möchtest du eine Frau haben, die flucht wie ein Soldat?«
Alle außer Elin und Lovisa kicherten.
»Karl Gustav müsste sie bezwingen wie der Bauer die Prinzessin mit der scharfen Zunge. Na, Mädchen? Was machst du so große Augen? Kennst du das Märchen nicht?«
Elin schüttelte den Kopf und das Gelächter wurde lauter.
»Na, dann erzähl es ihr schon, Tilda!«, sagte eine Frau zu dem dicken Mädchen. Die ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie wandte sich zu Elin um und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.
»Das war eine rebellische Prinzessin, die nicht heiraten wollte. Als ihr Vater es ihr doch befahl, sagte sie, sie würde nur den nehmen, der sie sprachlos machen könnte. Sie setzte sich in den Thronsaal, den sie zuvor hatte kräftig aufheizen lassen, und wartete auf die Freier. Jeder, der eintrat, rief aus: ›Hier ist es aber heiß!‹ Worauf sie prompt zurückrief: ›In meinem Hintern ist’s heißer!‹ Da waren die Freier sprachlos.«
Gelächter umbrandete Elin. Tilda grinste Elin an.
»Na, wird das kleine Gänschen jetzt rot?«
Elin funkelte die kichernden Damen an. Wie rot würden die erst werden, wenn sie einen Tag in der Küche oder in den Stallungen bei den Knechten verbracht hätten!
»Das ist noch gar nichts – warte, bis du unsere Kristina kennen lernst«, ereiferte sich Tilda weiter. »Gegen die ist die großmäulige Prinzessin ein Waisenkind!«
»Hört auf!«, befahl Lovisa. »Wo habt ihr euren Anstand gelassen?« Das Gelächter verebbte und ging in Getuschel über. Im fahlen Licht, das durch das Seitenfenster fiel, sah Lovisas Gesicht noch strenger aus. Trotzdem war Elin sicher, dass für die Dauer eines Wimpernschlags ein amüsiertes Lächeln über die grimmigen Züge gehuscht war.
Die Wärme des kleinen Ofens hatte nicht einmal bis Mittag vorgehalten. Müdigkeit und Rückenschmerzen machten sich bemerkbar, außerdem eine leichte Übelkeit, denn obwohl der Schlitten dahinglitt, schaukelte und ächzte er, wenn sie über Schneehaufen fuhren oder bisweilen auch stecken blieben und warten mussten, bis sich die Kufen mit einem Ruck wieder aus dem Untergrund lösten. Das Schnauben der Pferde und die dumpfen Hufschläge wollten Elin in den Schlaf locken. Mehrmals ertappte sie sich dabei, wie sie den Kopf gegen die mit Samt bespannte Seitenwand lehnte und wegnickte. In einem dieser flüchtigen Träume erwachte sie in der Küche und Greta starrte sie wutentbrannt an.
Rufe drangen an ihr Ohr, ein Ruck ging durch die Kutsche und Elins Stirn schlug unsanft ans Fenster. Tilda sackte mit ihrem ganzen Gewicht gegen sie. Gerade noch konnte Elin sich abstützen, bevor ein zweiter Ruck sie Richtung Tür schleuderte. Jemand klopfte an die Scheibe.
»Aussteigen! Der Schlitten steckt fest!«
Lovisa und die Damen seufzten und zogen die verrutschten Decken von ihren Knien. Als Letzte kroch Elin aus dem Schlitten. Ihre Glieder waren so steif, dass sie stolperte, aber die Hand eines Reiters fing sie sicher ab.
»Langsam, Mademoiselle!«
Der Reiter, der ihr geholfen hatte, war ein ungewöhnlich schöner Mann. Blonde Locken fielen ihm über den Mantelkragen. Eine goldgelbe Feder an seinem Hut bauschte sich im Wind. Er rief dem Kutscher etwas zu und einige der Grenadiere lenkten ihre Pferde zu der Kutsche. War das vielleicht der Sohn des Marquis? Aber nein, das konnte nicht sein, dafür war sein Schwedisch zu perfekt. Im selben Moment preschte ein zweiter Reiter heran. Hoch spritzte der Schnee auf, als das Pferd aus dem Galopp zum Stehen kam. Die Damen wichen zurück. Ein leuchtend grüner Mantel mit Goldborten und Knöpfen fiel über die Kruppe des Pferdes.
»Der junge Marquis de Vaincourt«, flüsterte Tilda. Ihre Wangen waren vor Aufregung ganz rot. »Die Grafenfamilie ist mit dem französischen Botschafter Chanut befreundet, der in Stockholm lebt.« Elin runzelte die Stirn und schlang sich das Wolltuch, das sie während der Fahrt aus ihrem Bündel geholt hatte, um den Hals.
Das Pferd, das der junge Adlige ritt, warf den Kopf hoch und stemmte sich gegen den Zaum. Schaum troff in den Schnee. Der Marquis wirkte nicht viel älter als Elin. Das schwarze Haar erinnerte sie an die viel zu dunkle Lockenpracht der Marquise – und auch in den fein geschnittenen Zügen des jungen Mannes konnte Elin eine Ähnlichkeit ausmachen. Als der Reiter ihm etwas zurief, lächelte der Franzose nur hochmütig und schüttelte den Kopf.
»Wer ist der blonde Mann mit dem Federhut?«, wandte sich Elin an Tilda. Das Mädchen schien nur darauf gewartet zu haben, ihr Wissen mit ihr zu teilen. Sie war geschwätzig, aber harmlos, stellte Elin fest.
»Wie, du kennst ihn nicht? Das ist Magnus de la Gardie, Mitglied des Reichsrats. Manche behaupten, er sei der Günstling der Königin. Bis vor kurzem war er noch außerordentlicher schwedischer Botschafter in Paris.«
»Warum hat er einen französischen Namen, wenn er Schwede ist?«
»Seine Vorfahren stammen aus der Gascogne.«
Als hätte Magnus de la Gardie das geflüsterte Gespräch gehört, sah er sich plötzlich nach Elin um. Rasch wandte sie sich ab. Inzwischen hatte sich die Dunkelheit des Winters über den frühen Nachmittag gelegt. Nur am Horizont konnte man noch ein wenig Helligkeit erahnen. Das Land lag unberührt wie ein weißes Laken vor ihr. Die Soldaten hatten aus dem Gepäckkasten der Kutsche Schaufeln hervorgeholt und feuerten die Pferde an. Mit aller Kraft legten sich die Tiere in das Geschirr, doch der Schlitten, der schräg in der Schneewehe steckte, rührte sich immer noch nicht.
Elin genoss die Pause und sog tief die kühle Luft ein. Hier, weit draußen auf den Ebenen, gab es nichts Schöneres als den Winter und die Farben des Himmels.
»Geht zurück!«, rief der Kutscher der Gruppe zu.
Während Elin sich beeilte, Lovisa und den anderen zu folgen, fing sie einen Blick des jungen Marquis auf. Für einen Moment sah sie sich mit seinen Augen: ein unbeholfenes Mädchen mit einem hässlichen blauen Fleck im Gesicht. Und zu allem Überfluss schwankte sie in den hohen Schuhen und hatte Mühe, in dem engen Mieder Luft zu bekommen. Ein spöttisches Grinsen huschte über das hochmütige Gesicht des Adligen. Sein Pferd tänzelte auf der Stelle. Grob parierte er es durch und hielt es am viel zu kurzen Zügel zurück. Es war ein schönes Tier – schwarz, mit gebogenem Schwanenhals und einer Mähne, für deren Pflege ein Stallknecht viel Mühe aufgewendet hatte.