»Und?« fragte Skudder.
»Und, und, und!« äffte Gurk seinen Tonfall böse nach. »Stell dir mal ein Haus vor, das vom Keller bis zum Dachboden von Starkstromkabeln durchzogen ist. Und dann stell dir vor, was passiert, wenn jedes einzelne dieser Kabel im gleichen Moment explodiert - falls deine Phantasie dazu ausreicht. Diese Irren hätten die ganze Milchstraße in die Luft sprengen können! Kleine Schwierigkeiten bei unserer Wiederverstofflichung? Verdammt, es hätte sein können, daß nichts mehr dagewesen wäre, in das wir hätten zurückkehren können!«
»Du übertreibst«, sagte Kias ruhig. »Die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe, wie du sie beschreibst, war recht gering.«
»Aber sie war gegeben?« fragte Charity erschrocken.
Kias machte eine beruhigende Geste. »Der Zwerg hat recht, was die Größe des Transmitternetzes angeht«, erklärte er. »Ein Gebilde von dieser Ausdehnung ist sehr belastungsfähig. Um das gesamte Transmitternetz zusammenbrechen zu lassen, wäre ein Vielfaches der angefallenen Energie nötig gewesen. Es kam zu ein paar kurzzeitigen Störungen, das ist alles.«
»So?« keifte Gurk. »Und wie nennst du das da?«
Wütend deutete er auf das Tor ins Nichts, das sich noch immer über dem schwarzen Block drehte, auf dem der Transmitter gestanden hatte.
Charitys Blick folgte seiner Geste - und erst in diesem Moment wurde ihr klar, daß sie sich die Bewegung, die sie im Inneren des schwarzen Wirbels gesehen zu haben glaubte, nicht eingebildet hatte. Was sie sah, war das dunkle Wogen des Hyperraumes, jener unfaßlichen Dimension, durch die jene geheimnisvollen Transmitterstraßen führten. Rauchschwaden trieben auf das zuckende Loch in der Wirklichkeit zu und verschwanden darin, und als sie noch einmal und genauer hinsah, erkannte sie etwas wie Nebel, der sich vom Boden löste und ebenfalls verschlungen wurde: Staub und mikroskopisch feine Trümmerstücke, die wie von Geisterhand bewegt auf den Riß im Raum-Zeit-Kontinuum zuglitten. Und ganz plötzlich, als hätte es erst der optischen Bestätigung bedurft, um sie das Gefühl spüren zu lassen, fühlte sie den Wind: einen ganz sachten, aber beständigen Wind, der in das schwarze Nichts hineinströmte wie in ein Fenster in die Unendlichkeit.
»Er ... er arbeitet noch!« murmelte sie erschrocken.
»Ganz recht!« sagte Gurk heftig. »Er arbeitet noch, wenigstens in einer Richtung. Aber ich sehe keinen Knopf mehr, um ihn abzuschalten.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Charity wirklich verstand, was Gurk mit diesen Worten sagen wollte. »Du ... meinst, diese Transmitterverbindung ist ...«
»Ist keine Transmitterverbindung mehr, sondern ein Riß in der Welt!« unterbrach sie Gurk. »Ein Loch, durch das euer ganzer schöner Planet hindurchplumpsen kann, wenn es Ihnen nicht gelingt, es zu stopfen. Und ich wüßte nicht, wie das geschehen sollte.«
Charity fuhr herum und starrte Kias mit einer Mischung aus Entsetzen und Unglauben an.
»Ihr könnt es doch schließen, oder?« fragte sie.
»Selbstverständlich«, antwortete Kias. »Wir werden das Problem analysieren und lösen - sobald Morons Herrschaft auf diesem Planeten endgültig gebrochen ist.«
»Dann wollen wir nur hoffen, daß das bald der Fall ist«, sagte Gurk böse. »Sehr bald.« Er kicherte, aber es hörte sich gekünstelt an. »Fällt euch irgend etwas auf?«
Sowohl Charity als auch Stone und Skudder blickten erneut zu dem wirbelnden Nichts im hinteren Teil der Halle empor. Der Anblick war unangenehm, so fremd und bizarr, daß er Charity noch eine Weile körperliches Unbehagen zu bereiten begann. Trotzdem zwang sie sich, fast eine Minute lang hinzusehen, ehe sie sich mit einem Kopfschütteln wieder an Gurk wandte. »Nein. Was?«
»Er wird größer«, sagte Gurk beinahe fröhlich.
4
Dem entsetzlichen Gefühl, in nichts aufgelöst und einen zeitlosen Moment später an einem anderen Ort und aus dem gleichen Nichts wieder neu geschaffen zu werden, folgten zwei Augenblicke voll noch größerem Schrecken. Der erste bestand darin, daß er weder seinen Körper noch seine Umgebung fühlte und für einen winzigen Moment felsenfest davon überzeugt war, tot zu sein. Der zweite Schrecken kam, als er begriff, daß das nicht stimmte, daß er aber nichts sehen konnte. Er lebte, und er konnte sich bewegen, er fühlte den kalten, harten Boden unter sich und eisige Luft, die über sein Gesicht strich, aber vor seinen weit aufgerissenen Augen war nichts als absolute Schwärze, und die Vorstellung, blind zu sein, war für eine Sekunde noch schlimmer als der Tod. Dann hörte er Nets Stimme neben sich, die sich lauthals fluchend darüber beklagte, daß es so dunkel war. Die Erleichterung war so groß, daß sich Hartmann mit einem hörbaren Seufzer zurücksinken ließ und für einen Moment die Augen schloß. Etwas raschelte in der Nähe, und plötzlich spürte er einen Körper neben sich, dann fragte Net: »Hartmann? Sind Sie das?«
»Ja.« Er streckte die Hand aus, ertastete ihre Finger und drückte sie kurz und heftig.
»Kein Grund, mir die Hand zu brechen«, sagte Net.
Hartmann lockerte seinen Griff erschrocken, setzte sich zögernd auf und versuchte, die Dunkelheit ringsum mit Blicken zu durchdringen. Ohne Erfolg. Aber ihm fiel auf, wie sonderbar leicht ihm die Bewegung fiel. Sein Körper schien viel weniger zu wiegen als gewöhnlich.
»Ist ... sonst noch jemand hier?« fragte er zögernd.
»Ich.« Kyles Stimme kam irgendwo von links, und sie klang gepreßt und verriet Hartmann, daß der Megamann verletzt war. »Aber ich an Ihrer Stelle wäre ruhig, bis wir genau wissen, wo wir sind.«
Hartmann ersparte sich eine Antwort. Statt dessen setzte er sich vorsichtig auf, griff in die rechte Tasche seiner Jacke und zog eine winzige Taschenlampe heraus. Er brauchte vier Versuche, bis er sich eingestand, daß das Gerät den Sturz auf den Boden weniger gut überstanden hatte als er. Ein kaum hörbares Klicken war das einzige Ergebnis, als er den Schalter mehrmals vor- und zurückschob. Enttäuscht ließ er die Lampe wieder sinken, griff abermals in die Tasche und zog die halbleere Zigarettenpackung und sein Feuerzeug hervor. Die winzige gelbe Flamme schuf einen Bereich flackernder Helligkeit, der gerade ausreichte, seine eigene Hand und ein Stück seines Unterarms zu erkennen, und das Zischen des ausströmendes Gases schien die Dunkelheit dahinter mit wisperndem, unheimlichem Leben zu erfüllen. Hartmann schwenkte das Feuerzeug herum, bis der Lichtschein auf Nets bleiches Gesicht fiel. Sie blinzelte in der plötzlichen Helligkeit, und er sah, daß sie verletzt war. Ihr Gesicht war bleich und dunkel von eingetrocknetem Blut, und auch auf ihrer Jacke hatte sich ein häßlicher Fleck gebildet.
Das Feuerzeug in seiner Hand wurde so heiß, daß er den Daumen hob und die Flamme erlöschen ließ. Er mußte vorsichtig damit sein. Wie es aussah, war das winzige Feuerzeug zumindest im Augenblick ihre einzige Lichtquelle.
»Kyle?« fragte er.
»Ich bin hier.« Die Stimme des Megamannes drang irgendwo aus der Dunkelheit. »Kommen Sie her. Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Hilfe?« Hartmann war verwirrt, aber gleichzeitig auch ein wenig alarmiert. Wozu um alles in der Welt brauchte jemand wie Kyle seine Hilfe? Behutsam drehte er sich herum, hob die Hand und ließ das Feuerzeug gerade lange genug aufflammen, um einen Schatten vor sich zu erkennen. »Warte hier«, sagte er, an Net gewandt, während er auf Händen und Knien loskroch. Erneut spürte er, daß er irgendwie ... leichter geworden war?
»Fällt mir nicht ein«, antwortete Net. »Ich werde einen kleinen Spaziergang machen, bis du zurückkommst.«
Hartmann lächelte - nicht einmal so sehr wegen Nets Antwort, sondern vielmehr, weil sie ganz selbstverständlich wie er zum vertrauten Du übergewechselt war.