Der Megamann hatte sehr leise gesprochen, und Hartmann spürte erneut ein eisiges Frösteln. Er sah Kyle noch immer nicht an, als er antwortete. »Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie mir da gerade gesagt haben, Kyle?«
»Ja.« Ein Keuchen folgte. »Wenn meine Befürchtung zutrifft, dann müßten sie mich eigentlich auf der Stelle töten. Ich würde das verstehen - und akzeptieren.«
Hartmann schwieg lange. Dann wandte er sich mit einem heftigen Kopfschütteln und einem gezwungenen Lächeln wieder an den Megamann. »So, wie es aussieht, bin ich nicht einmal sicher, ob wir sie lebend hier herauskriegen, Kyle.«
Kyle blieb ernst. »Sie müssen es mir versprechen, Hartmann.«
Hartmann nickte. »Das tue ich.«
»Und ...« Kyle zögerte einen winzigen Augenblick. »Es wäre auch besser, wenn sie Net und sich selbst erschießen würden, wenn es soweit ist. Glauben Sie mir - der Tod ist dem vorzuziehen, was sie erwartet, sollten sie lebend in seine Gewalt gelangen.«
Nach allem, was Kyle ihm vorhin über die Shait erzählt hatte, glaubte ihm Hartmann aufs Wort. Und trotzdem machte er plötzlich eine zornige Geste. »Sie reden ein wenig zuviel vom Sterben für einen Mann, der angeblich nicht umzubringen ist. Was ist los mit Ihnen? Hat der Transmitter Ihnen auch Ihren Mut geraubt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Kyle. »Etwas ... ist nicht mehr da. Ich weiß nicht, was es ist.«
»Nicht mehr da? Was soll das heißen?«
Kyles Gesicht zuckte, ob als Antwort auf seine Frage oder vor Schmerz, konnte Hartmann nicht sagen. »Ich fühle mich ... als ob ein Teil von mir fort wäre«, sagte er. »Irgend etwas fehlt. Ich kann nicht sagen, was, aber ... es ist fort.«
Die Tür glitt auf, und Net kam zurück.
Hartmann empfing die Wasteländerin wenig freundlich. »Was, zum Teufel, sollte dieses kleine Kunststück?« schnappte er. »Bist du verrückt geworden?«
Net blinzelte irritiert. »Mir ist nichts passiert. Aber es tut gut zu wissen, daß da jemand ist, der sich Sorgen um einen macht.«
»Das habe ich tatsächlich!« fauchte Hartmann. Er begriff selbst, daß sein Ton alles andere als angemessen war. Und es war auch eher der Schrecken, mit dem ihn Kyles Worte erfüllt hatten, der sich nun auf Net entlud.
Zu seinem Erstaunen reagierte sie noch immer nicht gereizt, sondern mit nur noch größerer Verwirrung. »Dort draußen ist nichts«, sagte sie. »Nur ein kurzer Gang und eine Art Schacht. Keine Ameisen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kann mich natürlich täuschen, aber ich glaube fast, die ganze Anlage ist verlassen.« Sie sah wieder auf Kyle herab. »Wie geht es ihm?«
Kyle hatte die Augen wieder geschlossen und spielte den Bewußtlosen; vielleicht war er es auch. Das Reden hatte ihn sehr angestrengt.
»Unverändert«, sagte Hartmann. »Bist du sicher, daß keine Moroni in der Nähe sind?«
»Nein, das bin ich nicht«, erwiderte Net. »Aber sieh dich doch um! Wenn diese Anlage nicht abgeschaltet ist, dann weiß ich nicht, was man darunter versteht.«
Hartmann sagte nichts, aber er gab ihr im stillen recht. Die Halle enthielt zahllose seltsam geformte Maschinen, aber soweit er dies beurteilen konnte, war keine davon in Betrieb. Das einzige Licht war der blutrote, flackernde Schein, der aus dem Schacht heraufdrang. Und sie hörten nicht den mindesten Laut. Sie waren bisher davon ausgegangen, daß all diese Geräte irgendwie durch die Katastrophe am Nordpol in Mitleidenschaft gezogen worden waren, aber das mußte gar nicht so sein. Sie waren nicht sicher, ob sie sich überhaupt noch in der Nähe des Nordpols aufhielten - im Grunde wußten sie nicht einmal, ob sie sich überhaupt noch auf der Erde aufhielten.
Vor Hartmanns innerem Auge entstand eine schreckliche Vision: Er sah eine verlassene Weltraumstation auf irgendeinem öden Meteoriten, die einzig und allein dazu gedient hatte, den Shait an Bord eines wartenden Raumschiffes gehen zu lassen und danach aufgegeben wurde, um für alle Zeiten durch den Kosmos zu treiben.
»Also gut«, sagte er. »Komm!«
Sie nahmen Kyle zwischen sich und trugen ihn, ohne daß er aufwachte. Net öffnete die Tür. Dahinter lag ein kurzer, metallverkleideter Gang, der nach kaum zehn Metern in einen kreisrunden und vielleicht fünf Meter messenden Schacht mündete, genau wie es Net gesagt hatte. Wahrscheinlich war es ein Aufzugschacht.
Hartmann beugte sich vor und blickte schaudernd in die schwarze Tiefe, die unter ihm klaffte. Von irgendwoher kam blasses, rötliches Licht. Vorsichtig lud er Kyle auf dem Boden ab, suchte mit der Hand an der metallverkleideten Wand neben sich nach Halt und beugte sich vor, soweit er es wagte, um in die Höhe zu blicken.
In der Mitte des Schachtes hing ein dünnes, silberfarbenes Drahtseil herab, das sich in unmöglich zu schätzender Höhe in rotem Dunst verlor. Unter normalen Umständen hätte Hartmann nicht einmal die Möglichkeit in Betracht gezogen, daran emporzusteigen; zumal er keine Vorstellung hatte, wie lang dieses Seil war. Aber die Umstände waren alles andere als normal. Sie hatten sich gründlich genug in der Halle umgesehen, um zu wissen, daß es keinen zweiten Ausgang gab.
»Also gut«, murmelte er, während er sich mit einem kräftigen Ruck wieder zurück in den Gang stieß. »Versuchen wir es.«
Net riß die Augen auf. »Versuchen wir was!«
Hartmann deutete mit einer Kopfbewegung zuerst auf Kyle, dann auf das Drahtseil. »Du kannst doch gut klettern, oder?«
Nets Augen wurden noch größer. »Bist du verrückt? Das meinst du nicht ernst!«
»Und ob«, antwortete Hartmann. »Oder hast du eine bessere Idee?«
8
Nichts hatte sich verändert, seit Charity das letzte Mal hier gewesen war. Der Raum befand sich noch immer in dem gleichen, völlig verwüsteten Zustand, in dem ihn der Angriff der Jared versetzt hatte. Die Liegen waren umgeworfen und zerbrochen, Laken und Kissen zerfetzt, die Überwachungsgeräte auf den Konsolen waren zertrümmert und die großen, einseitig verspiegelten Fenster in den Seitenwänden zerborsten. Nur an die drei Reihen schmaler Pritschen konnte Charity sich nicht erinnern. Die Liegen waren ebenso unversehrt wie die Gestalten, die auf ihnen ruhten.
»Freuen Sie sich nicht zu früh, Captain Laird«, sagte Stone, der ihr Schweigen offenbar mißverstand. »Die wenigsten von ihnen werden jemals wieder aufwachen. Und wenn sie doch aufwachen, dann werden sie geistige und körperliche Wracks sein. Die Jared haben diese Menschen nicht umsonst verschont.«
»Wie ein geistiges Wrack komme ich mir eigentlich nicht vor«, sagte Harris beleidigt.
»Das war in Ihrem Falle etwas anders«, antwortete Stone. »Ihr Überwachungscomputer zeigte eine gestörte Alphawelle an. Es war ein Fehler in dem Gerät; nicht in ihrem Gehirn.«
Harris verdrehte die Augen, bis er schielte, und begann zu hecheln. »Jajajaja«, stammelte er. »I-i-i-ich f-f-f-fühle mi-mi-mich auch scho-scho-schon wie-wie-wie-der ganz priiima.«
Skudder lachte, während auf Stones Gesicht ein deutlicher Ausdruck von Verärgerung erschien. »Lassen Sie den Blödsinn!« sagte er scharf. »Wir haben keine Zeit für solche Mätzchen.«
Charity gab Stone recht; dennoch warf sie Harris ein freundliches Lächeln zu, ehe sie sich wieder den schlafenden Gestalten zuwandte.
Skudder, Stone, Harris und sie waren nicht die einzigen Besucher hier unten. Zwischen den Liegen bewegten sich die dürren, vierarmigen Gestalten von Jared; manche scheinbar ziellos, andere mit kleinen, kompliziert aussehenden Gerätschaften ausgestattet, mit denen sie sich dann und wann über einen der Schlafenden beugten oder sich an einem der kleinen Überlebenscomputer neben den Betten zu schaffen machten. Der Anblick erfüllte Charity mit einem Widerwillen, gegen den sie sich nicht wehren konnte. Stone hatte ihr auch erklärt, was die Jared hier taten: Sie untersuchten Hartmanns schlafende Armee, um vielleicht doch noch den einen oder anderen Schläfer zu erwecken. In Charity sträubte sich alles gegen dieses Bild. Es erschien ihr einfach falsch, daß die gleichen Kreaturen, die ihre Heimatwelt erobert und verheert und neunzig Prozent ihres Volkes ausgelöscht hatten, sich jetzt um das geistige und körperliche Wohl der wenigen Überlebenden kümmern sollten. Und auch wenn sie sich sagte, daß die Ameisen vor ihr nur noch aussahen wie Moroni, aber längst keine mehr waren, änderte das nichts an ihren Gefühlen.