Stone antwortete hastig. »Doch, ich traue ihnen. Aber ich fürchte, diese Welt wird nie wieder so werden, wie sie war. Selbst wenn die Jared den Krieg gewinnen, ohne diesen Planeten dabei in Schutt und Asche zu legen, so wird es hinterher zwei intelligente Spezies auf dieser Welt geben. Und mir wäre es lieber, wenn sie gleichberechtigt wären.«
Charity schwieg für endlos lange Sekunden. Dann schüttelte sie noch einmal den Kopf, aber schon fast gegen ihre Überzeugung. »Ich glaube, Sie überschätzen mich, Stone«, sagte sie. »Ich bin nicht die, für die sie mich halten.«
»O doch«, widersprach Stone. »Diese sechs Freiwilligen, über deren ... Schulung Sie so entsetzt waren, Captain Laird, beweisen es.«
Charity sah überrascht und fragend auf, und Stone fuhr mit einer erklärenden Geste fort: »Ich bin gestern abend selbst nach Paris geflogen, um mit den Leuten dort zu reden. Die Moroni-Basis dort ist geräumt; die Menschen sind frei. Diese sechs sind nur die ersten. Ich hätte sechshundert mitbringen können, wenn ich gewollt hätte. Aber sie sind nicht mir gefolgt. Das Zauberwort hieß Charity. Fragen Sie sie, sobald sie aufwachen. Sie werden es Ihnen bestätigen.«
»Das werde ich tun«, versprach Charity.
»Und Ihre Antwort?«
Charity blickte zu Boden. Ihre Gedanken rasten. Sie konnte das nicht. Sie wollte das nicht. Aber sie schwieg.
»Darf ich Ihr Schweigen als ›ja‹ auffassen?« fragte Stone, als sie auch nach mehr als einer Minute nicht reagierte.
Charity seufzte tief. »Habe ich denn eine andere Wahl?« flüsterte sie.
9
Der Aufzugschacht war etwas über hundert Meter tief, und trotz der verminderten Schwerkraft und des Umstandes, daß es in regelmäßigen Abständen schmale Vorsprünge in seinen Wänden gab, auf denen sie ausruhen konnten, kam es Hartmann hinterher wie ein Wunder vor, daß sie es geschafft hatten.
Seine Arme fühlten sich an, als hätte sie jemand aus den Gelenken gerissen. Es gab buchstäblich keine Stelle an seinem Körper, die nicht weh tat. Er hob das rechte Augenlid, sah einen verschwommenen hellen Fleck vor sich und identifizierte ihn nach einigem Nachdenken als Nets Gesicht.
Im ersten Moment war er nicht einmal sicher, daß die Wasteländerin noch lebte. Als er mit einer gewaltigen Kraftanstrengung die Hand ausstreckte und mit den Fingerspitzen ihre Wange berührte, fühlte sich ihre Haut eiskalt an.
Hartmann schloß die Augen wieder, sammelte minutenlang neue Kraft und drehte sich auf die andere Seite, um nach Kyle zu sehen. Von ihnen dreien schien der Megamann am meisten zu Kräften gekommen zu sein. Natürlich, dachte Hartmann, schließlich war er den Schacht hinaufgetragen worden.
»Alles in Ordnung?« fragte Kyle.
Hartmann zwang sich zu einem schiefen Lächeln. »Ja«, sagte er grimmig. Mühsam und wie ein Betrunkener wankend setzte er sich auf, überzeugte sich mit einem neuerlichen, besorgten Blick davon, daß auch Net nur erschöpft und nicht ernsthafter verletzt war, und fuhr erschrocken zusammen, als er ihre Hände sah. Das Drahtseil hatte ihr Fleisch stellenweise bis auf die Knochen aufgescheuert. Blut lief in dunklen, glitzernden Bahnen bis zu ihren Ellbogen hinab.
Mit klopfendem Herzen blickte Hartmann auf seine eigenen Hände hinunter. Sie boten keinen wesentlich besseren Anblick als die Nets, und wie es oft der Fall war, spürte er den Schmerz erst, als er die Wunden sah. Stöhnend ballte er die Hände zu Fäusten und setzte sich wankend auf.
Im dritten Versuch endlich kam er auf die Beine. Unsicher wandte er sich um und ging zum Rand des Schachtes zurück, durch den sie heraufgekommen waren. Er war jetzt nicht mehr sicher, daß es sich wirklich um einen Aufzugschacht handelte. Es hatte auch hier oben keine Liftkabine gegeben, sondern nur dieses dünne, aber äußerst stabile Seil aus silberfarbenen Metallfasern. Aber wenn es kein Aufzugschacht war, was war es dann?
Vorsichtig drehte er sich herum und unterzog ihre Umgebung einer ersten, flüchtigen Inspektion. Der Raum war niedrig, aber sehr groß. An den Wänden drängten sich Reihen großer, sonderbar aussehender Geräte und Maschinen, aber auch Apparaturen, deren Konstruktion ihm sonderbar vertraut erschien, ohne daß er sagen konnte, warum. Die Geräte waren allesamt abgeschaltet. Hartmann hatte nicht einmal eine Ahnung, was sie bedeuten mochten. Wo zum Teufel waren sie?
Er stellte eine entsprechende Frage an Kyle, erntete aber nur ein Achselzucken. Nachdem er sich wieder um Net gekümmert hatte, machte er sich auf den Weg zur anderen Seite der Halle. Der Weg betrug vielleicht vierzig oder fünfzig Meter, und die niedrige Schwerkraft half ihm, ihn in weniger als fünf Etappen zurückzulegen. An seinem Ziel angelangt, lehnte er sich mit geschlossenen Augen einen Moment lang gegen die Wand, um neue Kraft zu schöpfen. Er war noch immer so müde und ausgelaugt, daß er sich am liebsten auf dem Boden ausgestreckt und geschlafen hätte. Aber er spürte auch, daß seine Kräfte allmählich zurückkehrten.
Hartmann begann, die Wand neben der Tür einer gründlichen Inspektion zu unterziehen - und erlebte eine Überraschung, als er begriff, wieso es Net so leicht gefallen war, das Tor unten in der Halle zu öffnen: In der Wand neben dem Rahmen befanden sich zwei große, deutlich mit ›OPEN‹ und ›CLOSE‹ beschriftete Tasten ...
Der Raum hinter der Tür war vollkommen leer. Durch ein rundes, zu groß geratenes Fenster fiel silbernes, bleiches Licht herein. Nachdem er sich vorsichtig umgeblickt hatte, ging Hartmann zu diesem Fenster hinüber. Er stand lange Zeit reglos und wie gelähmt da und blickte auf die bizarre schwarz-weiße Landschaft auf der anderen Seite des Fensters.
Spätestens jetzt mußte er es zugeben.
Hartmann hatte nun wirklich alles getan, um die Augen vor der Wahrheit zu verschließen und sich selbst zu belügen. Er hatte sich eingeredet, daß sie sich irgendwo im Inneren der Erde befanden und daß die drastisch verminderte Schwerkraft künstlich erzeugt worden war, um vielleicht für die Shait oder die Ameisen angenehmere Lebensbedingungen zu schaffen. Aber für das, was er auf der anderen Seite des Fensters sah, gab es keine Erklärung mehr.
Schroffe, wie mit einem Messer aus weichem Ton herausgeschnittene Berge und Grate erhoben sich vor einem Nachthimmel, der von dem tiefsten, reinsten Schwarz war, das Hartmann jemals gesehen hatte. Gewaltige Risse und Schlünde durchzogen den Boden, und hier und da entdeckte er riesige Krater. Es gab keine Farben, sondern nur ein Grau in allen vorstellbaren Schattierungen. Nein - alle Versuche, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, waren einfach lächerlich geworden.
Sie befanden sich nicht mehr auf der Erde.
Hartmann brauchte einige Minuten, um diese Erkenntnis zu verarbeiten. Dann drehte er sich abrupt um und wandte sich von dem Fenster ab. Doch was er plötzlich vor sich sah, erschreckte ihn noch mehr als die leblose Landschaft draußen. Er sah Gespenster, die lautlos hinter ihm auf der anderen Seite der Kammer erschienen waren, die ihn einen Moment lang wortlos anblickten und sich dann alle im gleichen Moment umwanden und wieder gingen.
Aber sie benutzten nicht die Tür oder einen anderen, verborgenen Ausgang.
Sie verschwanden einfach in der Wand.
*
Charitys erster Einsatz kam bereits am übernächsten Tag, und er verlief völlig anders, als sie geglaubt hatte.
Sie war Stone eine direkt Antwort auf seine Frage weiterhin schuldig geblieben, aber ihnen war beiden klar gewesen, daß sie sich im Grunde schon längst entschieden hatte, denn die Umstände sprachen für sich. Nachdem sie ihre erste Verwirrung so weit überwunden hatte, daß sie wieder einigermaßen ruhig über Stones Worte nachdenken konnte, mußte sie zugeben, daß sie gar nicht mehr anders konnte, als einzuwilligen. Die einzige Alternative wäre tatsächlich gewesen, ihre Sachen zu packen und zu gehen, um die Welt der Gnade der Jared zu überlassen.