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Sie verbrachte fast den gesamten nächsten Tag damit, sich einen ersten allgemeinen Überblick über die Lage zu verschaffen. Zumindest in einem Punkt waren Stones Vorhersagen eingetroffen: Das Raketenbombardement hatte noch im Laufe der Nacht nachgelassen und schließlich fast ganz aufgehört. Dann und wann fingen die radargesteuerten Rubinlaser des Bunkers noch eine vereinzelte Rakete ab, doch keines der Geschosse kam auch nur in die Nähe der Basis oder Kölns. Aber damit hörten die guten Nachrichten auch schon auf.

Der Feldzug der Jared gegen ihre entarteten Brüder lief auf vollen Touren; aber nicht halb so gut, wie die Kollektivintelligenz es gern gehabt hätte. Kias wich ihren Fragen zwar mit einem erstaunlichen Geschick aus, aber Charity war nicht blind. In den zwei Tagen, die seit ihrer Rückkehr zur Erde vergangen waren, waren anscheinend überall auf dem Planeten heftige Kämpfe entbrannt; Kämpfe, aus denen die Jared meistens als Sieger hervorgingen, aber sie rückten nicht annähernd so schnell vor, wie Kias Charity und Skudder bei ihrem ersten Gespräch hatte Glauben machen wollen. Die Moroni versuchten zwar nicht weiter, die Eifelbasis oder das Nest der entarteten Königin in Köln mit atomaren Waffen zu zerstören, aber das bedeutete nicht, daß sie ihre Angriffe einstellten. Bei einer der wenigen Gelegenheiten, als Charity unversehens die Bunkerzentrale betrat und Stone die Monitorwand nicht rasch genug abschaltete, so daß sie einen Blick auf die Außenwelt werfen konnte, sah sie es hoch oben am Himmel noch immer silbern und weiß aufblitzen; Kampfgleiter, die versuchten, die elektronischen Barrieren der Festung zu unterlaufen, um eine Kommandoeinheit abzusetzen oder vielleicht sogar in selbstmörderischer Manier eine Bombe ins Ziel zu bringen. Charity sagte nichts dazu. Sie war sich immer noch nicht darüber im klaren, ob Stone nun wirklich auf ihrer Seite stand. Aber wenn er log, dann tat er es perfekt und hatte auf jede nur erdenkbare Frage eine glaubwürdige Antwort parat.

Also bedachte Charity Stone nur mit einem eisigen Blick und steuerte auf Gurk zu, der, heftig mit Händen und Füßen gestikulierend, in eine Diskussion mit zwei Jared verwickelt war. Sie hatte Gurk seit ihrer Rückkehr insgesamt nicht länger als fünf Minuten gesehen, und er war in dieser Zeit jeder konkreten Antwort auf irgendeine Frage ausgewichen. Sie fragte sich, was plötzlich mit dem Zwerg los war.

Im allerersten Moment glaubte Charity, Gurk würde sie einfach ignorieren, aber dann registrierte er das warnende Glitzern in ihren Augen, denn er machte eine komplizierte Geste zu seinen beiden horngesichtigen Gesprächspartnern und wandte sich Charity zu. Ungeduld spiegelte sich auf seinem Gesicht. »Was willst du?« fragte er unwillig. »Ich habe eine Menge zu tun. Wir können uns später unterhalten.«

»Nein«, antwortete Charity. »Jetzt.« Sie wies mit einer Kopfbewegung über die Schulter zurück auf Stone. »Ist es dir lieber hier oder draußen?«

»Ich habe keine Geheimnisse vor Stone«, antwortete Gurk. »Aber ich glaube, es ist dir lieber«, fügte er hinzu und ging an ihr vorbei zur Tür. Charity folgte ihm. Sie spürte Stones Blicke. Er wirkte irritiert, vielleicht auch ein wenig besorgt.

»Also?« fragte Gurk ungeduldig, kaum daß sie auf dem Gang angelangt waren und Charity die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Was willst du wissen? Und bitte, beeil dich - ich habe wirklich viel zu tun.«

»Genau darum geht es«, entgegnete Charity mühsam beherrscht. »Was für furchtbar wichtige Dinge hast du zu tun? Wir sind jetzt seit drei Tagen hier, und ich habe dich in dieser Zeit nicht einmal fünf Minuten gesehen.«

Gurk zog eine Grimasse. »Bist du nicht diejenige, die sich einmal darüber beschwert hat, daß ich ihr manchmal auf die Nerven falle?«

Charity machte eine ärgerliche Handbewegung. »Weich mir nicht aus«, sagte sie. »Du weißt ganz genau, wovon ich rede.«

Gurk setzte zu einer seiner typischen Antworten an, aber dann besann er sich doch noch eines besseren, schwieg einige Sekunden lang und sah sie sehr nachdenklich an. »Ich habe wirklich wenig Zeit gehabt, Charity«, sagte er. Er deutete auf die Tür zur Zentrale. »Sie brauchen meine Hilfe, ob du es glaubst oder nicht.«

»Ich glaube es«, antwortete Charity. »Ich frage mich nur, wobei.«

Gurk verschränkte die Hände hinter dem Rücken und begann, in kleinen Kreisen auf dem Flur auf und ab zu gehen. »Es geht um den Transmitter«, sagte er.

Charity erschrak. »Ist etwas damit nicht in Ordnung?«

Gurk lachte humorlos. »Nicht in Ordnung? Du machst Scherze! Du hast das Ding gesehen, oder?«

»Sicher, aber ich verstehe nicht ...«

»Es besteht kein Grund zur Sorge«, unterbrach sie Gurk hastig. »Ich habe vielleicht im ersten Moment ein wenig überreagiert. Der Riß im Raum-Zeit-Kontinuum scheint sich zu stabilisieren.«

»Scheint?« fragte Charity mißtrauisch.

Gurk zuckte mit den Achseln und breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus, um sie gleich darauf wieder hinter dem Rücken zu verschränken. »Ich gebe zu, ich verstehe ein wenig von diesen Dingen - schließlich hatte ich Zeit genug, mich damit zu beschäftigen und sie zu beobachten. Aber ich bin auch kein Spezialist für Transmitter. Auf jeden Fall hat er aufgehört zu wachsen. Leider wird er auch nicht kleiner.«

»Und was bedeutet das?« fragte Charity. Sie spürte eine Beunruhigung, die sie sich im ersten Moment nicht erklären konnte, die aber mit jeder Sekunde stärker wurde.

»Wenn ich das wüßte, wären wir ein schönes Stück weiter«, gestand Gurk. »Ich schätze, es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder er schließt sich eines Tages von selbst wieder, oder er bleibt, wie er ist.«

»Oder er beginnt wieder zu wachsen«, vermutete Charity.

Gurk nickte widerwillig. »Sicher ... Das ist möglich. Aber sehr unwahrscheinlich.« Er registrierte ihren wenig überzeugten Blick und fügte mit einem nervösen Lächeln hinzu. »Ich hänge genauso auf diesem öden Planeten fest wie du, Charity. Ich würde mit solchen Dingen keine Scherze treiben. Ich schätze, die Wahrscheinlichkeit, daß die Erde von einem großen Meteoriten getroffen und zerstört wird, ist ungefähr genauso hoch wie die, daß der Raum-Zeit-Riß plötzlich wieder wächst und sie verschlingt.« Er zögerte einen Moment. »Was mir Sorgen macht, ist ein ganz anderer Gedanke.«

»Und welcher?«

»Die Vorstellung«, antwortete Gurk seufzend, »daß unsere Freunde von Moron eines Tages einen Weg finden, ihn wieder zu dem zu machen, was er war. Sie oder der Shait, falls wir ihn nicht früh genug erwischen. Bei allem guten Willen, aber die Jared neigen dazu, sich zu überschätzen. Und ihre Gegner zu unterschätzen.« Er zuckte abermals mit den Schultern. »Ich habe natürlich keine Ahnung, wie es draußen in der Galaxis aussieht. Vielleicht sind sämtliche Transmitter zusammengebrochen, vielleicht aber nur dieser eine hier oder einige wenige in der Nähe dieses Sonnensystems. Wenn sie alle ausgeflippt sind, dann haben wir Glück, denn dann haben die Moroni für die nächsten fünfhundert Jahre genug zu tun. Aber wenn es nur dieser eine ist ...« Wieder breitete er die Hände aus. »Sie werden nicht untätig herumsitzen und der Dinge harren, die da kommen. Ich bin im Gegenteil sicher, daß sie sich schon emsig die Köpfe zerbrechen, auf welchem Weg sie uns wieder einen Freundschaftsbesuch abstatten können.«

»Dann zerstört dieses verdammte Ding doch!« sagte Charity. »Jagt es in die Luft! Schießt ein paar Atomraketen hinein oder tut sonst irgend etwas!«

Gurk schüttelte den Kopf und lächelte schwach. »So einfach ist das leider nicht«, antwortete er. »Ich weiß, du hast gedacht, ich hätte den Verstand verloren, als ich auf Kias losgegangen bin, aber ich hatte meine Gründe, so zu reagieren.« Plötzlich wurde seine Stimme sehr ernst, so ernst, daß Charity bei seinen nächsten Worten ein eisiger Schauer über den Rücken lief. »Diese Narren wollen es nicht wahrhaben, aber wir haben großes Glück gehabt, Charity. Wir alle. Und nicht nur diese Welt. Es hätte gut sein können, daß sie das gesamte Universum in die Luft gejagt hätten.«