»Aber ich ...«
»Die Moroni haben moderne Waffen, vergessen Sie das nicht«, fuhr Charity fort. »Ein Busch ist kein besonders zuverlässiger Schutz gegen das Lasergewehr.«
Delgard wirkte enttäuscht. Er schien Charitys Meinung auch nicht zu teilen, widersprach aber nicht, sondern nickte nur knapp.
»Wenn es Sie tröstet, Delgard«, fuhr Charity fort, »die beiden anderen stellen sich auch nicht sehr viel geschickter an.« Sie seufzte. »Nehmen Sie es nicht zu tragisch, junger Mann. Zu wissen, wie eine Waffe funktioniert, bedeutet noch lange nicht, ein guter Soldat zu sein.«
Skudders Gesichtsausdruck verdüsterte sich weiter, aber Charity gab ihm keine Gelegenheit, irgend etwas zu sagen, sondern schlenderte beinahe gemächlich hinter den beiden anderen her. Wären in dem Gebäude wirklich Moroni-Soldaten versteckt gewesen, dann wären auch sie längst nicht mehr am Leben. Aber die Reaktion auf Delgards Gesicht hatte ihr klargemacht, daß sie vielleicht etwas zu hart mit ihm umgesprungen war. Trotz aller Begeisterung und allem künstlich eingetrichterten Wissens waren die drei nicht mehr als Rekruten, die gerade ihre erste Unterrichtsstunde bekamen.
Während die beiden jungen Franzosen weiter Krieg spielten, steuerte Charity ein Gebäude auf der anderen Straßenseite an. Es war ausgebrannt und von Unkraut und Büschen überwuchert, aber seine Vorderfront war beinahe unbeschädigt geblieben. Geschwungene gelbe Schriftzeichen über der gesplitterten Glastür verrieten ihr, daß es einmal eine Bankfiliale gewesen war.
Sie blieb stehen, überlegte einen Moment - und lachte plötzlich leise auf. Mit einer raschen Bewegung drehte sie sich herum und winkte Skudder zu. »Paß einen Moment auf sie auf!« rief sie. »Ich bin gleich zurück.«
Sie betrat die Bank, durchquerte den verwüsteten Schalterraum und fand beinahe auf Anhieb, wonach sie gesucht hatte. In einem fensterlosen, kahlen Zimmer, dessen gesamte Einrichtung aus einem Tisch und einem Plastikstuhl bestand, erhob sich ein wuchtiger Tresor. Charity nahm ihr Gewehr von der Schulter, stellte den Laser auf höchste Energieabgabe ein und feuerte zwei kurze, gezielte Schüsse ab. Das Schloß glühte rot auf und verwandelte sich in schmelzendes Metall. Charity benutzte den Lauf des Gewehres, um die Tür ganz aufzuhebeln, ohne sich die Finger an dem heiß gewordenen Stahl zu versengen.
Der Anblick der gestapelten Banknoten, Wertpapiere und Dokumente in dem Safe gab Charity einen tiefen, unerwarteten Stich. Vor nicht einmal sehr langer Zeit hätte der Inhalt dieses kleinen Tresores ausgereicht, ihr ein sorgenfreies Leben für den Rest ihrer Tage zu garantieren. Was dort vor ihr lag, hatte einmal die Welt beherrscht. Menschen waren dafür gestorben oder hatten getötet, hatten ihre Freunde und ihre Familie verraten oder verlassen, hatten Leben zerstört und ihre eigenen ruiniert. Und jetzt war es nicht mehr als wertloses Papier.
Sie begriff, daß sie auf dem besten Wege war, sich selbst in Melancholie zu versetzen, verscheuchte den Gedanken und griff sich eines der Banknotenbündel. Sorgfältig zählte sie nicht weniger als eine halbe Million Deutscher Mark ab und verließ den Raum.
Skudder sah ihr verwirrt entgegen, als sie wieder auf die Straße hinaustrat, während auf Harris' Stirn eine steile, fragende Falte entstand. Erstaunt erblickte er das Banknotenbündel, das Charity in beiden Händen trug.
Seine Überraschung steigerte sich noch, als Charity es ihm in die Hand drückte. »Was ...?«
»Das ist eine halbe Million«, sagte Charity fröhlich.
Harris starrte die Geldscheine an und konnte vor Verwirrung nicht einmal eine Frage stellen.
»Ihr ausstehender Sold«, erklärte Charity. »Sie baten mich doch, mit Stone darüber zu reden.«
Harris' Unterkiefer klappte verblüfft herunter, während Skudder sie eine Sekunde lang verdattert ansah - und dann schallend zu lachen begann. Nach einigen Augenblicken stimmte Harris in dieses Lachen ein, ließ sich in die Hocke sinken und legte den Stapel Banknoten behutsam vor sich auf den Boden. Vorsichtig zog er eine der Banknoten unter der Banderole hervor, faltete sie zu einem dünnen Streifen zusammen und klaubte dann eine Zigarette aus der Brusttasche seiner Uniform. Mit einer fast zeremoniellen Bewegung ließ er sein Feuerzeug aufschnappen, steckte den Hunderter in Brand und entzündete an der Flamme seine Zigarette.
»Das habe ich mir schon immer gewünscht«, sagte er.
»Zu mehr ist es wohl auch nicht mehr zu gebrauchen«, erklärte Skudder. »Was beweist, daß es nichts gibt, das nicht auch seine guten Seiten hat. Wenigstens diesen Irrsinn haben uns die Ameisen abgewöhnt.«
Charitys Funkempfänger meldete sich mit einem Piepsen. Sie schaltete das Gerät ein und hielt das Armbandmikrophon an die Lippen. »Ja?«
»Lerou hier«, meldete sich der junge Franzose, der im Helikopter zurückgeblieben war. »Ein Funkspruch aus der Basis, Captain. Commander Stone verlangt Sie zu sprechen.«
»So, tut er das?« murmelte Charity. Lauter sagte sie: »Okay. Ich komme.«
Sie gingen zurück zum Helikopter, und Charity nahm im Sitz des Piloten Platz, ehe sie das Bildfunkgerät am Armaturenbrett einschaltete. Stones Gesicht erschien auf dem winzigen Bildschirm, und für einen ganz kurzen Moment hatte sie das Gefühl, einen erschrockenen Ausdruck auf seinen Zügen zu sehen. Als er aber sprach, klang seine Stimme so ruhig und hochmütig wie immer.
»Captain Laird! Wo waren Sie?«
»Ich habe mir ein wenig die Beine vertreten«, antwortete Charity lächelnd. »Haben Sie etwas dagegen?«
»Sie sind gelandet?«
»Ja«, sagte Charity. Sie lächelte weiter, aber sie bemühte sich, dieses Lächeln möglichst herausfordernd wirken zu lassen, obgleich sie sich selbst sagte, wie albern ihr Benehmen war.
»Das ist gut«, sagte Stone. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Und geben Sie mir Ihre genaue Position durch.«
Charitys Lächeln erlosch wie abgeschaltet. »Warum?« fragte sie alarmiert.
»Eine Anzahl Gleiter ist durchgebrochen«, erklärte Stone. Er machte eine hastige Handbewegung. »Kein Grund zur Sorge. Wir erwischen sie. Aber es ist besser, wenn Sie am Boden bleiben, bis unsere Schiffe sie heruntergeholt haben.«
»Gleiter?« wiederholte Charity verwirrt. »Aber wieso?«
»Woher soll ich das wissen?« schnappte Stone. »Tun Sie, was ich gesagt habe. Ich melde mich, sobald die Gefahr vorüber ist.« Er schaltete ab, bevor Charity eine weitere Frage stellen konnte, und für eine Sekunde blickte sie den erloschenen Bildschirm wütend und erschrocken zugleich an.
Die Vorstellung, daß die Moroni hierherkamen, war völlig absurd. Sie alle hatten mit eigenen Augen gesehen, daß schon die flüchtigste Berührung eines Jared reichte, um aus den Ameisen einen Teil der Kollektivintelligenz werden zu lassen. Jeder Soldat, den der Shait hierher schickte, war ein potentieller Kämpfer für seinen Gegner.
»Was tun wir?« fragte Skudder, der hinter sie getreten war und das kurze Gespräch mit angehört hatte.
»Hierbleiben und die Köpfe einziehen«, antwortete Charity nach kurzem Überlegen.
Skudder sah aus, als hätte er eine andere Antwort erwartet. »Er wirkte ziemlich nervös, findest du nicht auch?« fragte er.
Charity drehte sich zu ihm herum. »Dir ist es auch aufgefallen?«
»Irgendwas stimmt nicht«, bemerkte Skudder nachdenklich. »Ich werde ihn danach fragen, sobald wir zurück sind.«
Charity stand auf, ging nach hinten in die Kabine des Helikopters und unterrichtete Harris und die drei anderen, was geschehen war. »Ich glaube nicht, daß wir Grund haben, uns Sorgen zu machen«, schloß sie. »Trotzdem ist es besser, wir tun so, als wäre es ernst.« Sie machte eine befehlende Geste und deutete dann auf Jean, den Jungen, der sie auch hierhergeflogen hatte. »Schnallt euch an. Und Sie übernehmen das Steuer.«
»Sie fliegen nicht selbst?« fragte Harris überrascht.
»Wir fliegen überhaupt nicht«, antwortete Charity. »Ganz davon abgesehen, kann ich so ein Ding überhaupt nicht fliegen.« Sie hatte es einmal versucht, und dieser erste und einzige Versuch hatte beinahe in einer Katastrophe geendet.