Roter Flammenschein erfüllte die Kanzel. Von irgendwoher drang beißender Rauch herein und machte das Atmen fast unmöglich. Charity brauchte drei Versuche, um überhaupt auf die Füße zu kommen.
Der Pilot hing reglos in seinen Sicherheitsgurten neben ihr im Sitz. Charity beugte sich besorgt über ihn, rüttelte an seiner Schulter und rief seinen Namen, aber er reagierte nicht. Als sie die Hand nach seinem Helm ausstrecken wollte, um ihn abzuziehen, sah sie das Blut, das in breiten Strömen unter dem verspiegelten Visier hervorschoß. Sie erstarrte für eine Sekunde, streckte ihre Hand aus und tastete nach seinem Puls.
Nichts. Er war tot.
So schnell sie konnte, arbeitete Charity sich aus dem Cockpit heraus und in den hinteren Teil des Helikopters. Beinahe wäre sie von Harris von den Füßen gerissen worden, der den Fehler begangen hatte, seinen Sicherheitsgurt zu lösen, ohne sich irgendwo festzuklammern. Auch sein Gesicht war voller Blut, aber er fluchte so laut und ungehemmt, daß Charity begriff, daß er nicht ernsthaft verletzt sein konnte.
Wie es schien, hatten auch die anderen Glück gehabt. Skudder kämpfte fluchend mit dem Verschluß seines Gurtes, der offensichtlich nicht mehr richtig funktionierte, während Lerou, Delgard und Tribeaux sich bereits befreit hatten und mit fast komisch wirkenden Bewegungen die Tür zu erreichen versuchten, die plötzlich anderthalb Meter über ihnen lag.
»Raus hier!« schrie Charity überflüssigerweise. »Sie sind in ein paar Sekunden hier!«
Während die drei Kadetten hastig weiter auf die Tür zukrochen, bemühten sich Charity und Harris mit vereinten Kräften darum, Skudders Sicherheitsgurt zu lösen. Das Schloß hatte sich verklemmt. Schließlich zog Harris kurzerhand sein Messer und schnitt den Gurt dicht über Skudders rechter Schulter durch.
Sie schafften es, buchstäblich im allerletzten Moment zu entkommen. Blutrotes Feuer fiel vom Himmel und verwandelte den Helikopter in einen glühenden Schrotthaufen, als Skudder als letzter in einem gewaltigen Hechtsprung aus der Tür heraussprang. Er prallte ungeschickt auf und fiel mit einem Schmerzensschrei zurück. Ein armdicker Laserstrahl stach in seine Richtung, verfehlte ihn und setzte einen Baum in Brand. Charity wirbelte mitten im Schritt herum, rannte im Zickzack zu Skudder zurück und versuchte ihn in die Höhe zu reißen, aber statt ihn mit sich zu ziehen, fiel auch sie auf die Knie herab und erstarrte. Ein ungeheuerlicher Schatten legte sich über die Schneise, die der abstürzende Helikopter in den Wald geschlagen hatte. Sie hörte das tiefe, drohende Summen eines Gleitermotors, und plötzlich war der Himmel über ihnen nicht mehr blau, sondern silberfarben.
Der Moroni-Gleiter schwebte reglos zehn Meter über dem Wald. Aus dem Loch in seiner Unterseite quoll noch immer dichter, schwarzer Rauch, aber das Fahrzeug war nicht so beschädigt, wie sie gehofft hatte. Sekundenlang hing das riesige scheibenförmige Fahrzeug vollkommen reglos über ihnen, dann begann es ganz langsam tiefer zu sinken und sich gleichzeitig zu drehen. Charity beobachtete aus entsetzt aufgerissenen Augen, wie sich der Lauf einer der großen Laserkanonen direkt auf Skudder und sie richtete. Die Zeit schien stehenzubleiben. Sie wußte, daß es vorbei war. Alles Glück der Welt würde sie jetzt - nicht mehr retten. Aus dieser Entfernung konnten die Moroni gar nicht vorbeischießen.
Erstaunlicherweise hatte sie gar keine Angst. In der letzten Sekunde, die ihr wahrscheinlich noch blieb, streckte sie den Arm aus und ergriff Skudders Hand, und er erwiderte ihren Griff. Auch in seinen Augen stand keine Angst, nur ein tiefer, unstillbarer Zorn.
Charity wollte ihm zuschreien, daß sie ihn liebte, aber die Zeit reichte nicht mehr. Ein unvorstellbar helles, heißes, weißes Licht hüllte sie ein, machte sie blind und versengte ihre Kehle, als sie zu atmen versuchte.
Der Wald erzitterte unter einem ungeheuerlichen Donnerschlag. Etwas traf Charitys Schulter und riß eine rauchende Spur in ihre Jacke, und plötzlich wurde Skudders Griff so hart, daß es weh tat. Wieso lebte sie noch?
Aus tränenden Augen blickte sie auf. Der Gleiter war auf die Seite gekippt und stürzte heulend in den Wald neben ihnen. Das grelle Licht, das sie geblendet hatte, war die reflektierte Energie einer ganzen Lasersalve gewesen, die in seine Flanke eingeschlagen war.
Charity duckte sich instinktiv, als das dumpfe Donnern über sie hinwegrollte, mit dem das Schiff im Wald aufschlug. Dann warf sie sich flach auf den Boden und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, aber auch diesmal blieb der erwartete Feuersturm aus. Der Gleiter war abgestürzt, aber nicht explodiert.
Mühsam wälzte sie sich auf den Rücken, wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und suchte den Himmel ab. Zwei, drei Scheibenschiffe waren über ihnen aufgetaucht. Nicht weit entfernt kräuselte sich eine gewaltige Rauchsäule aus dem Wald, und durch die Blätter drang der flackernde Widerschein von Feuer. Zwei der drei Schiffe, denen sie ihre Rettung in allerletzter Sekunde zu verdanken hatten, näherten sich langsam der Absturzstelle, während das Dritte über ihnen schwebte. Charity hob die Hand und winkte, um zu zeigen, daß sie noch am Leben waren, dann stemmte sie sich mühsam in die Höhe und sah sich nach den anderen um. Skudder hockte neben ihr, und auch Harris und Lerou waren schon wieder auf den Beinen. Delgard krümmte sich wenige Meter entfernt auf dem Boden, während Tribeaux reglos hinter einem schwelenden Busch lag.
Charity ging zu der jungen Französin hinüber. Noch bevor sie sie erreichte, sah sie, daß jede Hilfe zu spät kam. Ein Splitter des explodierten Hubschraubers hatte sich wie ein Speer zwischen ihre Schulterblätter gebohrt. Schaudernd wandte sie sich ab, ging zu Delgard zurück und ließ sich neben ihn in die Hocke sinken. Der Kadett preßte die rechte Hand gegen den Leib und stöhnte vor Schmerzen. Ein glühender Metallsplitter hatte seinen Arm vom Ellbogen bis zur Handwurzel aufgerissen.
Charity streckte zögernd die Hand aus, berührte ihn an der Schulter, und Delgard sah auf. Sein Gesicht war schweißüberströmt und leichenblaß. Tränen liefen über seine Wangen, und zum ersten Mal, seit Charity ihn kennengelernt hatte, wurde ihr bewußt, wie jung er noch war. Die Uniformen, die Begeisterung der Kadetten und die Souveränität, mit der sie mit ihren Waffen und dem technischen Equipment der Basis umzugehen verstanden, hatten sie darüber hinweggetäuscht, woraus die Armee bestand, die Stone ihr versprochen hatte. Es waren Kinder, nichts als Kinder.
Ein rasender Zorn ergriff sie. Zorn auf die Moroni, auf Stone und Kias, aber auch auf sich selbst, daß sie wirklich zugestimmt hatte, sich auf diesen Wahnsinn einzulassen. »Keine Sorge«, sagte sie. »Wir kriegen Sie wieder hin, mein Junge.«
Delgard starrte sie aus großen, vor Schmerz und Angst trüben Augen an, und sie wußte, daß er ihre Worte nicht verstanden hatte.
Mit einer wütenden Bewegung stand sie auf, winkte Lerou zu sich heran und deutete auf Delgard herab. »Kümmern Sie sich um ihn«, befahl sie. Dann nahm sie ihr Gewehr von der Schulter, entsicherte es und begann in die Richtung loszulaufen, in der der Feuerschein des abgestürzten Gleiters zu sehen war.
12
Hartmann schob sich langsam vor. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt. Er registrierte jedes noch so winzige Geräusch, jede winzige Erschütterung des Bodens in seiner Nähe. Bei Gott, er glaubte fast, die Ameisen riechen zu können, wenn sie sich ihm näherten. Was um alles in der Welt hatte Kyle mit ihm getan?
Aber im Grunde wollte Hartmann die Antwort auf diese Frage gar nicht wissen. Der Megamann hatte eine bestimmte Stelle an seinem Rückgrat berührt, was ihm für einen Moment schier übermächtige Schmerzen verursacht hatte. Danach hatte ihn ein Gefühl von Kraft und Energie durchströmt, wie er es nie zuvor im Leben empfunden hatte. Es war, als wäre er zum ersten Mal wirklich wach. Doch Kyle hatte ihn gewarnt: Dem Ausbruch berserkerhafter Kräfte würde ein ebenso heftiger Zusammenbruch folgen. Hartmann hatte nicht viel Zeit. Eine halbe Stunde, vielleicht weniger. Bis dahin mußte er sein Ziel erreicht haben.