Die Hälfte dieser Frist war abgelaufen, aber Hartmann schätzte, daß er es schaffen konnte. Das Wrack des so unheimlich veränderten Gleiters lag vor ihm. In seinem momentanen Zustand, so vermutete Hartmann, konnte er die Distanz in weniger als zwei Sekunden zurücklegen und im Inneren des Schiffes verschwinden.
Theoretisch.
Praktisch bestanden diese fünf oder sechs Schritte aus völlig freiem Gelände. Er traute sich durchaus zu, das Schiff zu erreichen und in der Schleuse verschwinden zu können, ehe auch nur eine der Ameisen auf die Idee kam, auf ihn zu schießen, aber leider würde ihnen das nichts nutzen. Wichtig war, daß er unbemerkt an Bord des Schiffes gelangte.
Hartmann wunderte sich, wie gelassen er über den eigenen Tod nachzudenken imstande war. Er hatte sich solch gefährliche Situationen mehr als einmal ausgemalt, und er hatte gehofft, daß er in der Lage sein würde, sie ruhig und gefaßt zu meistern. Der Gedanke, daß er in wenigen Minuten tot sein würde, wenn er Erfolg hatte, berührte ihn nicht einmal. Vielleicht, überlegte er, hatte Kyle irgend etwas getan, um ihm seine Angst zu nehmen.
Er hatte das Ende der schmalen Gasse erreicht, die zwischen den zyklopischen Maschinenblöcken hindurch zum Sternentransmitter führte, und richtete sich behutsam auf. Sein Blick tastete das freie Stück vor sich ab. Er zählte ein Dutzend Ameisen. Er mußte warten. Nervös sah er auf die Uhr. Sie hatten zwanzig Minuten ausgemacht, und achtzehn waren verstrichen. Ohne die übermenschliche Schärfe seiner Sinne und die unheimliche Schnelligkeit seiner Reaktionen wäre Hartmann nicht einmal bis hierher gekommen.
Wieder sah er auf die Uhr. Noch eine Minute. Dreißig Sekunden, zwanzig, zehn ...
Hartmann spannte sich, als der Sekundenzeiger sich der zwölf näherte. Jetzt!
Nichts geschah. Die Moroni vor ihm bewegten sich mit der Gleichmäßigkeit von Maschinen weiter, und zum allerersten Mal kam Hartmann die Möglichkeit zu Bewußtsein, daß ihr Plan vielleicht nicht funktionieren würde, weil diese Insektengeschöpfe einfach ihre ihnen aufgetragenen Arbeiten weiterverfolgten, auch wenn rings um sie herum die Welt unterging. Was, wenn ...
Ein greller Lichtblitz zerriß das Halbdunkel der Halle, und eine Sekunde später ließ eine donnernde Explosion den Boden wanken. Ein zweiter und dritter Laserblitz folgten, und plötzlich war die Luft voll vom Kreischen und Zirpen der Moroni. In die Gestalten vor Hartmann kam hektische Bewegung. Sie warfen ihre Lasten davon, wirbelten herum und hielten plötzlich Waffen in den Händen, während sie an Hartmann vorbei in die Richtung stürmten, in der die Schüsse gefallen waren und noch immer fielen.
Wieder zuckten kurz hintereinander zwei, drei Laserstrahlen auf, und plötzlich erscholl ein ungeheures Krachen und Bersten, und eine Woge orangeroten Lichtes überflutete die Halle. Offensichtlich hatte Net eine der Maschinen zur Explosion gebracht.
Hartmann blinzelte, wartete sicherheitshalber noch zwei weitere Sekunden in seinem Versteck, dann rannte er los.
Er brauchte tatsächlich kaum eine Sekunde, um das Gleiterwrack zu erreichen, und das Wunder, auf das sie gehofft hatten, geschah: Er wurde weder entdeckt noch angegriffen, sondern warf sich mit weit vorgestreckten Armen in die offenstehende Schleuse des Schiffes. Er kam mit einer eleganten Rolle wieder auf die Beine und hechtete mit einem zweiten gewaltigen Satz ins Innere des Schiffes.
Direkt in die weit ausgebreiteten Arme einer Ameise hinein.
Hartmann wußte nicht, wer überraschter war - der Moroni oder er.
Die Ameise prallte mit einem schrillen, überraschten Pfeifen zurück und versuchte gleichzeitig nach ihm zu schlagen, aber Hartmann wich dem dreifachen Hieb mit einer geschickten Bewegung aus und rammte dem Rieseninsekt den Lauf seines Lasers in den Leib. Die Ameise taumelte und krachte hilflos gegen die Wand. Sofort wollte sie sich wieder aufrichten, aber wieder war Hartmann schneller. Er packte den Moroni, riß ihn in die Höhe und schmetterte ihn ein zweites Mal gegen das Metall des Korridors.
Aus dem wütenden Pfeifen der Kreatur wurde ein schmerzerfülltes Zischeln, das eine Sekunde später abbrach, als Hartmann sein Gewehr herumdrehte und mit dem Kolben zuschlug. Mit zuckenden Gliedmaßen sackte der Moroni vollends in sich zusammen und blieb liegen. Hartmann glaubte nicht, daß die Ameise tot war, aber sie war benommen und würde ein paar Minuten brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen.
Hartmann konnte hören, wie die Halle draußen in einer raschen Folge weiterer, schwerer Explosionen erbebte, als Kyle und Net ihre Laserfeuer auf die Maschinen konzentrierten, um möglichst viel Schaden anzurichten und somit für die notwendige Ablenkung zu sorgen, die ihm selbst die entscheidenden Sekunden verschaffen sollten. Hartmann stürmte den kurzen Gang entlang, warf sich mit einem Satz durch die offenstehende Tür zur Zentrale und feuerte blindlings in die Runde. Sein Laserstrahl traf das Steuerpult und verwandelte es in einen funkensprühenden Trümmerhaufen, tötete eine der drei Ameisen, die sich in der Zentrale aufhielten, und verwundete eine zweite so schwer, daß er sich keine Sorgen mehr um sie zu machen brauchte.
Die dritte stürzte sich auf ihn, aber sie beging den Fehler, ihn als das abzuschätzen, was er vor einer knappen halben Stunde noch gewesen war: einen verwundbaren schwachen Menschen.
Hartmann taumelte unter einem Krallenhieb zurück, der seinen rechten Arm übel zurichtete. Aber es war nur die pure Wucht des Schlages, die ihn wanken ließ. Er spürte keinen Schmerz, keine Schwäche.
Dafür war der Kolbenhieb, mit dem er den Moroni niederstreckte, um so heftiger.
Keuchend richtete er sich auf und sah sich um. Das Steuerpult brannte, und auch die Wand dahinter glühte in dunklem, flackerndem Rot, von dem erstaunlicherweise aber nicht die mindeste Hitze ausging. Bis auf die drei Moroni, die er erledigt hatte, war er allein. Rasch fuhr er herum, ließ das Panzerschott zugleiten und zerstörte das Schloß mit einem Schuß aus seinem Lasergewehr. Dann kniete er neben dem brennenden Steuerpult nieder.
Er fand fast sofort, wonach er suchte. Die Wartungsklappe war so perfekt in den Boden eingepaßt, daß er sie normalerweise übersehen hätte, aber Kyle hatte ihm genau gesagt, wonach er zu suchen hatte. Seine Finger tasteten über das glatte Metall, fanden eine rauhere Stelle und drückten zu.
Ein metallisches Klicken erscholl, und ein Stück des Bodens schob sich lautlos unter Hartmann zur Seite. Darunter kam ein rechteckiger Schacht zum Vorschein, in dessen Wand eine sonderbare Leiter eingelassen war.
Hartmann machte sich nicht die Mühe, sie benutzen zu wollen. Bei der niedrigen Schwerkraft brauchte er das auch nicht. Er überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß die beiden verwundeten Moroni nicht in der Lage waren, ihm zu folgen, dann sprang er kurzerhand in den Schacht herab.
Er befand sich in einem runden, mit Maschinen, Computern und Kabeln vollgestopften Raum, der so niedrig war, daß er sich erneut auf Hände und Knie herablassen mußte, um sein Ziel zu erreichen, eine niedrige, runde Klappe in der Wand, die einen äußerst massiven Eindruck machte.
Hinter der Wand schlug das atomare Herz des Gleiters, ein winziger Fusionsreaktor, in dem Temperaturen wie im Inneren einer Sonne herrschten. Und plötzlich spürte Hartmann doch Angst. Seine Hände begannen zu zittern, und sein Herz schlug plötzlich so fest, daß es weh tat. Trotzdem streckte er die Finger nach dem Schott aus und berührte das komplizierte, elektronische Schloß.