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Dies war seine letzte Chance. Wenn er diese gepanzerte Klappe öffnete und tat, was Kyle ihm erklärt hatte, dann würde er in wenigen Augenblicken tot sein, er und Net und Kyle und jedes lebende Wesen im Umkreis von zwei Meilen. Kyle hatte ihm nicht sagen können, wie verheerend die Wirkung eines durchgehenden Fusionsreaktors in dieser unterirdischen Basis war. Vielleicht würde nur diese Halle einstürzen, vielleicht würden sie aber auch die gesamte Station vernichten, wenn sie eine Kettenreaktion auslösten.

Aber Hartmann wollte plötzlich nicht mehr sterben. Er wußte, daß sein Tod die einzige Möglichkeit war, den zweiten Transmitter zu vernichten, ehe es den Moroni gelang, ihn in Betrieb zu nehmen, aber dieser Preis erschien ihm zu hoch. Viel zu hoch. Er drehte entschlossen das wuchtige Metallrad. Die Tür schwang lautlos und so rasch auf, als wäre sie schwerelos, und Hartmann blinzelte in das grellweiße, harte Licht der kontrollierten Atomexplosion, die dahinter ablief. Er wußte, daß nur ein Bruchteil des sonnenhellen Lichtes wirklich nach außen drang, denn das nukleare Herz des Gleiters war nicht allein durch Stahl abgeschirmt. Kein bekanntes Metall hätte die höllischen Temperaturen der Kernfusion auf Dauer ausgehalten. Was er sah, war auch nicht der Reaktorkern selbst, sondern die leuchtenden Energiefelder, die die Kernfusion bändigten.

Er zögerte noch einmal. Alles in ihm schrie danach, es nicht zu tun. Er wollte nicht sterben, und er wollte vor allem nicht, daß Net starb.

Aber wahrscheinlich war sie schon tot. Ihre Chance, den Ablenkungsangriff zu überleben, den Kyle und sie gestartet hatten, war ungefähr so groß wie die Möglichkeit, daß Hartmann die Explosion des Reaktors überlebte.

Er hob seine Waffe. Seine Augen schmerzten unerträglich, aber er zwang sich, direkt in das höllische weiße Lodern zu blicken. Es war völlig sinnlos, einfach einen ungezielten Schuß auf das Energiefeld abzugeben, aber Kyle hatte ihm gesagt, worauf er zu zielen hatte.

Hartmanns Finger näherten sich dem Auslöser, verharrten noch einmal einen letzten Moment lang darauf - und drückten ihn.

*

Charity brauchte über zehn Minuten, um die hundert Meter bis zum Wrack des abgestürzten Gleiters zurückzulegen, denn der Wald war so dicht, daß sie manchmal kaum von der Stelle kam. Zweimal mußte sie ihren Laser einsetzen, um sich einen Weg durch das seit fünfzig Jahren ungehindert wuchernde Gestrüpp zu brennen.

Natürlich kam sie zu spät. Der Gleiter war auf die Seite gestürzt und zerborsten. Neben ihm war eines der beiden anderen Scheibenschiffe niedergegangen. Das Wrack brannte lichterloh, und auf der Charity abgewandten Seite hatte das Feuer bereits auf den Wald übergegriffen. Dichter Qualm nahm ihr die Sicht, und der nahezu unerträgliche Gestank nach glühendem Metall und brennendem Kunststoff reizte sie zum Husten. Die Absturzstelle wimmelte von Jared, die aus dem gelandeten Gleiter hervorgekommen waren und die Trümmer nach Überlebenden durchsuchten, um sie zu einem der ihren zu machen.

Charity suchte auch nach Überlebenden. Aber aus einem anderen Grund.

Sie wußte, wie völlig unlogisch und falsch sie handelte, aber das war ihr in diesem Moment gleichgültig. Sie wollte eines dieser Biester haben, um es für das bezahlen zu lassen, was Tribeaux und Jean und den anderen angetan worden war.

»Sie sollten das nicht tun«, sagte eine Stimme hinter ihr.

Sie drehte sich herum und erblickte Harris. Wie Skudder war auch er ihr gefolgt, allerdings ohne zu versuchen, sie zurückzuhalten. Vermutlich hatten sie beide gespürt, was in Charity vorging.

»Sollte ich nicht?« fragte Charity kalt.

Harris antwortete nicht gleich, sondern sah sie nur beinahe mitleidig an, aber vielleicht war es gerade sein Schweigen, das ihr klarmachte, wie töricht sie sich verhielt.

»Wenn Sie wollen, daß sie dafür bezahlen, dann bringen Sie die beiden anderen zurück zur Basis«, sagte Harris. »Und helfen Sie Stone, diese Ungeheuer dahin zurückzujagen, wo sie hergekommen sind.«

»Und wenn mir das nicht reicht?«

Skudder trat hinter Harris aus dem Wald. Schrecken malte sich auf seinem Gesicht ab, als er das Wrack des Gleiters und die Flammen sah.

»Ich glaube nicht, daß es Überlebende gibt«, sagte Harris. »Und wenn doch...« Er ließ den Satz unvollendet, aber sie wußte, was er hatte sagen wollen. ›Und wenn doch, dann gehörten sie in ein paar Augenblicken zu ihnen‹. Aber gerade das trieb Charity in diesem Augenblick fast in den Wahnsinn. Sie drehte sich mit einem Ruck von Harris weg und blickte die Jared an, die mit den eckigen Bewegungen großer, aufrecht gehender Ameisen zwischen den Trümmern einherstolzierten und sich dann und wann über einen reglosen Körper beugten, und sie versuchte vergeblich, sich vor Augen zu halten, daß es genau diese Wesen waren, die ihnen allen vor Minuten das Leben gerettet hatten. Alles, was sie in den vierarmigen, schlanken Geschöpfen sah, waren ihre Feinde. Die Kreaturen, die vor einem halben Jahrhundert von den Sternen gekommen und den Menschen ihre Welt und ihre Zukunft gestohlen hatten. Und sie würden nie etwas anderes für sie sein, ganz egal, was geschah. Das wußte sie.

Aber Harris hatte trotzdem erreicht, was er wollte. Ihr Zorn war so schnell verraucht, wie er gekommen war, und zurück blieb nur ein Gefühl tiefer Bitterkeit. Minutenlang stand sie einfach so da und blickte auf die Richtung hinaus, und weder Harris noch Skudder sprachen sie in diesen Momenten an. Schließlich schaltete sie ihr Gewehr aus, hängte es sich über die Schulter und begann langsam auf den gelandeten Gleiter zuzugehen.

Skudder war mit einem schnellen Schritt neben ihr. »Was hast du vor?«

Charity deutete auf das Wrack des Gleiters. »Wir brauchen Hilfe. Delgard ist verletzt. Und ich hatte eigentlich auch nicht vor, zu Fuß zur Basis zurückzugehen.«

Skudder blickte zweifelnd, enthielt sich aber jedes Kommentars, und Harris folgte ihnen schweigend.

Sie schlugen einen Bogen, um einem brennenden Trümmerstück auszuweichen, und Charity beobachtete zwei Jared, die sich über die reglose Gestalt eines Moroni beugten. Die Ameise wies keine sichtbaren Verletzungen auf, mußte aber tot sein, denn sie reagierte nicht auf die Berührung der Jared.

Nicht, solange die beiden Insektengeschöpfe neben ihr standen.

Charity blieb überrascht stehen und betrachtete den Moroni genauer. Es war schwer, in dem Wesen mehr als einen wirren Haufen durcheinandergewirbelter Glieder zu erkennen - und doch war sie fast sicher, eine Bewegung ausgemacht zu haben.

»Was hast du?« fragte Skudder. Statt zu antworten, ging Charity auf den Moroni zu und blieb zwei Meter vor ihm stehen. Die beiden Jared, die das gestürzte Insekt untersucht hatten, stolzierten an ihr vorüber und maßen sie im Vorbeigehen mit einem Blick aus ihren kalten, wie geschliffenes Glas funkelnden Facettenaugen. Charity wartete ganz bewußt, bis sie vorüber waren, dann machte sie einen weiteren Schritt, beugte sich vorsichtig vor ...

... und warf sich im allerletzten Moment zur Seite, als drei der vier Arme des vermeintlich toten Moroni zuckten und wie tödliche Messer nach ihr schlugen.

Sie stürzte, rollte über die Schulter ab und versuchte in die Höhe zu kommen, ließ sich aber schnell zur Seite fallen, als der Moroni mit einer unglaublich rasanten Bewegung seinerseits auf die Füße sprang und sie abermals zu packen versuchte.

Diesmal erwischte eine seiner Krallen ihre Jacke und riß ein Stück Stoff heraus. Skudder schrie erschrocken auf und hob sein Gewehr, wagte es aber nicht zu schießen, aus Angst, sie zu treffen.

Der Arm des Moroni stieß auf Charity herab, die Klaue aus stahlhartem Horn grub sich neben ihr in den Waldboden. Sie blockte den Hieb eines zweiten Armes mit dem Unterarm ab und schrie vor Schmerz auf, als die dritte Hand des Ungeheuers ihre Wange aufriß. Instinktiv zog sie die Beine an den Leib und trat mit aller Kraft zu. Der Tritt schleuderte den Moroni zwar nicht zurück, nahm seinem Angriff aber den entscheidenden Schwung. Statt sie einfach zu überrennen und ihr mit seinen rasiermesserscharfen Klauen den Leib aufzureißen, stolperte der Moroni ungeschickt über sie hinweg, fuhr herum und stürzte plötzlich rücklings zu Boden, als sich eine zweite Insektenkreatur auf ihn warf. Während die beiden Ameisen über den Boden rollten, sprang Charity hastig auf die Füße und stolperte rückwärts gehend zwei Schritte davon. Skudder ergriff sie am Arm und stützte sie, und seine Augen weiteten sich vor Schrecken, als er ihre blutende Wange sah. Aber Charity winkte nur hastig ab, als er etwas sagen wollte, und verfolgte mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen den bizarren Zweikampf der Rieseninsekten vor sich.