»Kias!« schrie sie. »Komm endlich!«
Der Jared reagierte nicht. Charity war sogar sicher, daß er es nicht einmal getan hätte, hätte er ihre Stimme gehört. Stone stürzte an ihr vorbei und verschwand hinter der Biegung des abschüssigen Ganges, und Skudder packte ihre Schulter und versuchte sie mit sich zu zerren.
Eine Sekunde lang war Charity unschlüssig, was sie tun sollte. Sie war nahe daran, kehrtzumachen und zu Kias zurückzulaufen, um ihn mit Gewalt aus dem Steuerraum zu zerren. Dann begriff sie, wie aberwitzig dieser Gedanke war. Kias war viel stärker als sie. Sie fuhr herum und beeilte sich, Skudder zu folgen.
Etwas geschah, als sie lautlos den Gang hinunterstürzten. Die Wände vor ihnen verformten sich und begannen Blasen zu werfen, aber wie vorhin im Steuerraum spürte sie nicht die geringste Wärme. Das Licht wechselte von Gelb zu Blau und dann zu einer Farbe, für die sie nicht einmal ein Wort hatte, und für einen winzigen, zeitlosen Moment war es ihr, als zögen Schwaden aus wesenlosem, grauem Nichts durch den Gang vor ihnen, ein Bild, das gleichermaßen seltsam wie furchteinflößend war.
Und das sie kannte! Sie hatte dieses sinnverdrehende wogende Etwas schon einmal gesehen, als ...
Auch diesmal schien irgend etwas den Gedanken abzuschneiden, ehe sie ihn zu Ende denken konnte, und auch diesmal blieb ihr keine Zeit, über das nachzudenken, was hinter ihrer Stirn vorging.
Es wurde schlimmer.
Das Schiff zitterte nicht mehr, es tobte. Dreimal mußte sich Charity an den Wänden abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und zu stürzen, und beim letzten Mal versank ihre Hand direkt vor ihren ungläubig aufgerissenen Augen bis über das Gelenk in dem scheinbar massiven Stahl des Gleiters. Sie spürte keinerlei Widerstand, sondern ein körperloses Saugen und Ziehen, als würde sie in einen unsichtbaren Abgrund hineingezerrt. Im letzten Moment erst riß sie sich zurück, fand ihre Balance wieder und torkelte weiter.
Ihre Augen begannen ihr eine andere Welt vorzugaukeln als ihre Sinne - sie hatte weiter das Gefühl, den Gang hinunter zu laufen, aber ihr Gleichgewichtssinn behauptete, daß sie sich aufwärts bewegte; jeder Schritt kostete sie mehr Kraft als der vorhergehende, und ihr eigener Körper schien plötzlich Tonnen zu wiegen. Ein bitterer, unangenehmer Geschmack lag in der Luft, und in ihren Ohren war furchtbares Rauschen, das sie im ersten Moment für ein Geräusch hielt, bis ihr klar wurde, daß sie es nur fühlte.
Dicht hinter Skudder raste sie den Gang entlang - und blieb abrupt stehen. Wo waren French und seine Leute?
Sie war mehr als nur verwirrt. Rings um sie herum brach vielleicht das Universum in Stücke, aber wie hatte sie Stark und French und die andern Orbit-Geborenen einfach vergessen können!
Hilflos sah sie sich um und registrierte, daß auch Skudder stehengeblieben war und fast verzweifelt zu ihr zurückblickte. Der Gang hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem schmucklosen Metallkorridor, durch den sie heraufgekommen waren. Die Wände waren auf unbeschreibliche Weise verformt worden, und ihre Augen gaukelten ihr Dinge vor, von denen sie gar nicht wissen wollte, ob sie Realität oder bloße Einbildung waren. Aber sie konnte zumindest erkennen, daß sie sich unmittelbar vor der Abzweigung zur Ladebucht des Schiffes befand. Vielleicht hatte Stark seine Familie dorthin gebracht, als das Chaos begann.
Sie gestikulierte Skudder zu und versetzte Gurk einen Stoß, der ihn in die Arme des Indianers taumeln ließ.
Dann fuhr sie herum und rannte in den abzweigenden Gang hinein, um zu dem Laderaum zu gelangen. Die Tür öffnete sich, als sie noch drei Schritte entfernt war, und Stone kam ihr entgegen. In Gedanken entschuldigte sich Charity bei ihm dafür, ihn für einen Feigling gehalten zu haben, als er als erster aus dem Steuerraum floh. Stone sagte etwas und schüttelte gleichzeitig den Kopf, und wenn Charity auch seine Worte nicht verstand, so begriff sie dafür um so besser die Bedeutung des Entsetzens, das auf seinen Zügen erschienen war. Irgend etwas Furchtbares mußte mit French und seinen Leuten geschehen sein.
Stone versuchte sie an der Schulter zurückzuhalten, aber Charity schlug seinen Arm beiseite, drängte sich an ihm vorüber und schlug die Faust auf den Schalter, der die Tür öffnete. Sie bereitete sich auf das Schlimmste vor, während das schwere Panzerschott mit enervierender Langsamkeit vor ihr beiseite glitt.
Auf den Anblick, der sich ihr dann bot, war sie trotzdem nicht vorbereitet.
Der Laderaum war nicht mehr da.
Er war nicht zerstört oder aus dem Schiff herausgerissen worden. Er existierte nicht mehr.
Sekundenlang blieb Charity einfach reglos stehen, gelähmt von der gleichen Mischung aus Erschütterung und Entsetzen, die sie auch auf Stones Gesicht gelesen hatte. Sie kannte diese Schiffe, und sie wußte, daß sie im Grunde nichts anderes als fliegende Laderäume waren; eine Art übergroßer Container mit Triebwerk und Steuerkanzel. Aber wo eigentlich ein dreißig Meter durchmessender Laderaum sein sollte, befand sich nur noch ein Streifen schimmerndes Metalls, hinter dem die rückwärtige Wand des Laderaumes begann. So irrsinnig ihr selbst der Gedanke vorkam - das Schiff war einfach kleiner geworden.
Stone berührte sie an der Schulter. Sie fuhr herum, starrte ihn an und sah, wie sich seine Lippen bewegten. Sie versuchte nicht zu antworten, sondern signalisierte ihm mit einem Nicken, daß sie verstanden hatte, und lief los.
Skudder, Gurk und auch Kias hatten den Gleiter bereits verlassen, als Stone und sie nebeneinander in der Schleusenkammer anlangten. Sie sah, daß der Hopi Gurk immer noch festhielt. Mit der freien Hand winkte er ihr zu, sich zu beeilen. Sein Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet.
Das Schiff bäumte sich auf. Eine lautlose, rasend schnelle Wellenbewegung lief durch den Boden und hätte sie beinahe von den Füßen gerissen, und plötzlich schienen die Wände durchsichtig zu werden. Ein unsichtbarer Wind schien ihr plötzlich ins Gesicht zu schlagen, und mit einem Male fühlte sie erneut diesen schrecklichen, fast unwiderstehlichen Sog. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen, versetzte Stone einen derben Stoß, der ihn mehr aus der Schleuse herausstürzen ließ, und setzte ihm selbst mit einem verzweifelten Hechtsprung nach.
»...ttes Willen, BEEILT EUCH!« gellte Skudders Stimme in ihren Ohren. Gleichzeitig schlug ein geradezu höllischer Lärm über ihr zusammen: Schreie, das Prasseln von Flammen, ein elektrisches Knistern von unvorstellbarer Lautstärke, ein ununterbrochenes Bersten und Splittern und ein dumpfes Dröhnen, als bräche irgendwo ein ganzer Berg zusammen.
Der Schwung ihrer eigenen Bewegung riß sie nach vorne, so daß sie wieder gestürzt wäre, hätte Kias nicht zugegriffen und sie mit einer seiner so täuschend dünnen Hände aufgefangen. Charity bedankte sich mit einem automatischen Nicken bei ihm, machte sich los und drehte sich wieder zum Gleiter herum.
Der Anblick verschlug ihr den Atem.
Das Schiff glühte in einem kalten, inneren Feuer. Weißes Licht drang durch die metallenen Wände, so daß sie wie auf einer bizarren Röntgenaufnahme das Innere des kleinen Raumschiffes sehen konnten - und die Gestalten, die sich darin bewegten.
Es waren schwarze, mit harten Strichen gemalte Umrisse, die sich mit ruckhaften Bewegungen wanden und herumwarfen und rannten, ohne von der Stelle zu kommen, verzweifelt die Arme in die Höhe warfen, auf die Wände einschlugen ...
French, dachte sie entsetzt. Das waren French und seine Leute! Aber das war doch unmöglich! Der Gang war leer gewesen!
Aber jetzt waren sie da. Dort, wo sie sie zurückgelassen hatten, in der winzigen Schleusenkammer vor dem Steuerraum, durch die Skudder und Stone und sie selbst vor Sekunden gerannt waren!
Sie spürte, wie Skudder neben sie trat und etwas sagte, und diesmal hörte sie seine Stimme. Aber es war ihr unmöglich, sich auf seine Worte zu konzentrieren. Fassungslos und zu Tode erschrocken starrte sie die Umrisse der Orbit-Geborenen an, die sich wie in Todeskrämpfen wanden. Skudder und sie mußten direkt durch sie hindurchgelaufen sein!