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Sie war unglaublich groß, ihr Körper mindestens so groß wie die Londoner U-Bahn. Die Windungen ihres Leibes überlagerten immateriell die Juwelenkammer, waren aber nichtsdestoweniger real. Langsam zog sich der Körper der Schlange um mich zusammen. Natürlich war die Schlange nicht echt. Das hier war der Geist einer Schlange, ein alter Urgeist in Schlangenform, der mit Worten aus der Traumzeit geholt worden war, die besser unausgesprochen geblieben wären. Ich konnte nicht glauben, dass ein Schamane der Aborigines Big Aus diese Worte freiwillig mitgeteilt hatte, ganz egal, was der wohl versprochen haben mochte. Geister wie diese sollten nie in unsere begrenzte Welt gerufen werden dürfen. Sie haben immer eigene Pläne.

Big Aus intonierte noch mehr Worte, jetzt an die stählernen Gitterstäbe gerichtet, die die Kronjuwelen umgaben. Schutzzauber sprühten Funken, flackerten und gingen aus, und die metallenen Gitterstäbe schmolzen dahin wie heißes Kerzenwachs. Ich konnte alles durch die Windungen des Schlangenkörpers um mich herum sehen, und das gab mir den Rest. Vielleicht handelte es sich hier um einen alten Geist, der zu Fleisch geworden war, vielleicht sogar um einen älteren Gott, den man wieder in die Welt gelassen hatte, aus der man ihn vor langer Zeit vertrieben hatte, aber es war auch nur eine Schlange. Und ich war ein Drood. Durch die goldene Maske konnte ich sehen, dass die Lebenskraft wie ein leuchtender Fluss durch den Schlangenkörper pulsierte. Ich stieß meine gerüstete Hand tief in das unnatürliche Fleisch des Reptils, schloss meine goldene Faust um die Lebenskraft und drückte zu. Die Schlange kreischte einmal auf und verschwand zurück in die Sicherheit der Traumzeit.

Ich war wieder mit Big Aus allein im Tower.

Er sah auf die Kronjuwelen, die jetzt ohne Verteidigung vor ihm lagen. Dann wandte er mir seinen Blick zu. »Du kannst mich nicht aufhalten«, sagte er trotzig. »Ich habe zu lange darauf hingearbeitet. Ich habe Waffen und Geräte genug, um selbst einen Drood zu stoppen. Ich habe auch schon einen Teleport-Zauber vorbereitet, um mich und die Kronjuwelen hier rauszuholen.«

»Vielleicht hast du die Waffen«, sagte ich. »Aber ich kenne die richtigen Worte.«

Und ich sprach die Worte, die mir der Waffenmeister der Familie geschickt hatte. Er hatte sie mit eigener Hand auf nur einmal benutzbares Stück Pergament geschrieben. Worte, die in der Sekunde verschwanden, als ich sie auswendig gelernt hatte, denn sie waren zu gefährlich, als dass jemand sie lesen durfte, der nicht zur Familie gehörte. Alte Worte, mächtige Worte. Ich hatte wirklich gehofft, sie nicht benutzen zu müssen. Denn sie beschworen Dinge, die man am besten ungestört gelassen hätte. Und das erste Gesetz der Magie ist: Rufe nichts, das du nicht leicht wieder loswerden kannst.

Aber was sein muss, muss sein. Ich sprach die Worte aus, und einer nach dem anderen kam: die alten Könige und Königinnen von England. Ihre Geister waren aus freiem Willen an diesen Ruf gebunden, an diesen Ort, um England zu dienen, wenn die Zeit dazu gekommen war. Könige von Æthelstan bis Knut dem Großen, die Heinrichs und Richards, die Königinnen Mary, Elisabeth und sogar die arme Anne Boleyn der Tausend Tage. Sie alle standen aufrecht und stolz mit Kronen und königlichen Roben um Big Aus herum. Er sah von einem mitleidlosen Gesicht zum anderen und murmelte nutzlose Worte der Macht. Und dann kamen sie auf ihn zu. Er schrie auf. Und auf einmal war ich allein in der Juwelenkammer. Die Könige und Königinnen von England waren wieder zu ihrer ewigen Wacht zurückgekehrt. Und in Zukunft würde ein weiterer Geist in alle Ewigkeit den Tower von London bewachen.

Ich ging die steinerne Wendeltreppe hinunter, zurück durch die steinernen Durchgänge und über den offenen Hof hinweg durch das Verrätertor hinaus. Niemand versuchte, mich aufzuhalten oder mir Fragen zu stellen. Wenn ein Agent der Droods die Szenerie verließ, dann war der Ärger vorbei, und das reichte. Draußen in der Auffahrt war die Sonne endlich aufgegangen und der Morgen war da. Es sah aus, als würde es ein guter Tag werden. Für England.

Kapitel Zwei

Vom Regen in die Traufe

Also, vielleicht sollten Sie wissen, was bisher in unserer Familie geschah.

Meine Familie wurde immer von einer Matriarchin regiert, zuletzt von meiner Großmutter Martha Drood. Aber ich entdeckte, dass die Familie unter ihrer Herrschaft korrupt geworden war und sich gespalten hatte. Meine Großmutter war Teil eines alten und schrecklichen Geheimnisses um das Herz der Droodschen Macht. Also wandte ich mich gegen meine Familie, stürzte Großmutter, zerstörte das schreckliche Herz, dem unsere Macht entsprang, und übernahm die Herrschaft über die Familie selbst. Ich ersetzte das außerirdische Herz durch einen interdimensionalen Reisenden, der aus unerfindlichen Gründen, die nur er selbst kannte, gerne Ethel gerufen werden wollte. Ich tat mein Bestes, um die Art und Weise zu ändern, wie die Familie die Dinge handhabte, und führte zum ersten Mal die Demokratie ein.

Ich organisierte freie und faire Wahlen, damit jeder entscheiden konnte, wer die Familie beherrschen sollte. Sie stimmten mit überwältigender Mehrheit für Martha Drood.

Ich dachte darüber nach, sie zu töten, das Herrenhaus in die Luft zu jagen und die Droods in alle vier Windrichtungen zu verteilen. Oder darüber, ob ich vielleicht beleidigt sein sollte. Doch letztendlich ging es mir am Arsch vorbei. Sie hatten ihre Wahl getroffen, sollten sie doch damit leben. Ich hatte die Null-­Toleranz-Fraktion in der Familie auffliegen lassen, die bösartige Vereinigung des Manifesten Schicksals außerhalb der Familie zerstört und die Menschheit vor der Invasion der Hungrigen Götter gerettet. Und ich hatte einfach nicht mehr die Kraft, noch einen Krieg zu führen.

Außerdem hatte Martha Erfahrung und sie war nachgiebiger geworden. Das Herz war weg, und deshalb ließ ich sie einfach weitermachen. Ich ging wieder dazu über, ein Agent zu sein, ohne weitere drängende Verpflichtungen, Verantwortlichkeiten oder Entscheidungen. Und das war eigentlich genau das, was ich immer gewollt hatte.

Ich war immer noch Teil des Ratszirkels der Matriarchin. Dem Rat war sie rein technisch Rechenschaft schuldig. Darauf bestand die Familie. Allerbesten Dank, Familie! Wenn Großmutter wieder die Seiten wechselte, konnte ich sie allerdings immer noch alle töten, das Herrenhaus in die Luft jagen, die Familie in alle vier Windrichtungen verteilen und so weiter.

Der Ratszirkel bestand aus mir selbst, meinem Onkel Jack, dem Waffenmeister, meinem Cousin Harry und William, dem Bibliothekar. Meine Freundin, die Wilde Hexe der Wälder Molly Metcalf, gehörte allerdings nicht mehr dazu, obwohl sie dem vorigen Rat während des Krieges gegen die Hungrigen Götter ehrenhaft gedient hatte. Letztendlich hatten die Droods sie nicht als Autorität über sich akzeptiert, sie gehörte ja nicht zur Familie. Das wäre natürlich anders gewesen, hätte sie mich geheiratet. Aber Molly ist ein Freigeist und gehört nicht zu den Frauen, die geheiratet werden wollen. Also hatte sie das Herrenhaus verlassen und war wieder in ihren eigenen Wald zurückgekehrt. Ich hätte mit ihr gehen können. Ich wollte es sogar. Aber ich hatte Pflichten meiner Familie und der Welt gegenüber, und nach allem, was passiert war, glaubte ich fester denn je an die Wichtigkeit und Notwendigkeit dessen, was ich tue.

Molly versteht mich. Sie war im Herrenhaus sowieso nie glücklich.

Ich habe mein eigenes Zimmer im Herrenhaus, mit einer schönen Aussicht, und ich habe auch einen nützlichen kleinen Gegenstand, den man Merlins Spiegel nennt. Er erlaubt es mir, immer sofort dahin zu gehen, wo ich gebraucht werde. Es ist auch ein direktes Portal in Mollys wilde Wälder. Ich verbringe so viel Zeit dort, wie ich nur kann. Entfernung, Familie und Pflicht reichen nicht aus, um uns voneinander zu trennen.