»Sieh nicht mich an«, sagte Martha. »Ich war damals nur ein Kind. William sieht derzeit die Familienaufzeichnungen nach Lücken oder unnormalen Vorkommnissen durch.«
»Droods leben in der Regel nicht lange«, meinte der Waffenmeister. »Wir haben ein schweres Leben, große Verantwortung und brennen früh aus. Deshalb habe ich über etwas Neues nachgedacht: eine ganz neue Art, wie man die kürzlich Verstorbenen herbeirufen und ihnen Fragen stellen kann.«
»Nein, Waffenmeister«, sagte die Matriarchin sehr entschieden.
»Ja, gut, mein letzter Versuch verlief ziemlich katastrophal, aber das jetzt würde funktionieren! Ich bin fast sicher, dass wir verstorbene Droods aus den Dreißigern erreichen könnten -«
»Ich sagte nein, Jack!« Die Matriarchin sah ihn böse an, bis er in rebellisches Schweigen verfiel. »Es ist gegen die Familienpolitik, Geister zu ermutigen, sonst säßen wir schon knietief in Wiedergängern. Wir wissen sehr gut, dass man selbst den Liebsten, die gestorben sind, nicht trauen kann. Die Toten haben immer eigene Pläne.«
»Es gibt immer ein paar Manifestationen im Herrenhaus«, meinte der Waffenmeister beleidigt. »Warum versuchen wir's nicht mit denen? Ich meine, Jacob ist vielleicht weg, aber die kopflose Nonne in der alten Galerie …«
»Ich wünsch dir viel Glück dabei, Antworten aus ihr rauszubekommen«, murmelte ich.
»Na schön, was ist mit -«
»Die Toten bleiben außen vor!«, rief Martha laut. »Weitermachen. Wir wissen immer noch nicht, wer Sebastian getötet hat. Oder zumindest das, was noch von ihm übrig war, nachdem er von einem Abscheulichen infiziert und besessen wurde. Er starb in einer unserer sichersten Arrestzellen, in einem Isolationstank.« Sie warf dem Waffenmeister einen strengen Blick zu und er begann, sich nervös zu winden. »Mir wurde vermittelt, dass diese Tanks vollkommen einbruchs- und ausbruchssicher seien!«
»Das sind sie auch!«, rief der Waffenmeister. »Ich habe sie selbst entworfen. Sei fair - er ist nicht entkommen, oder? Wer auch immer Sebastian umgebracht hat, ist durch all unsere Sicherheitssysteme, die Überwachungsanlagen - seien sie nun magisch oder wissenschaftlich - gekommen, ohne einen Alarm auszulösen. Anscheinend war es ihm möglich, Sebastian umzubringen, ohne selbst den Tank zu betreten. Meine Leute haben das ganze Areal mit allen Methoden untersucht, die wir haben, einschließlich einiger, die ich speziell entwickelte. Wir haben nichts gefunden. Natürlich, wenn dir mein Bestes nicht gut genug ist …«
»Ach, schmoll nicht, Jack. Einem Mann in deinem Alter steht das nicht. Und setz dich gerade hin, du lümmelst schon wieder herum.«
»Ja, Mutter.«
»Edwin …«
»Großmutter, versuch gar nicht erst, mich rumzukommandieren. Ich lümmele rum, wie's mir passt.«
»Ich wollte eigentlich sagen, es läuft darauf hinaus, dass wir einen Verräter in der Familie haben. Jemanden, der Zugang zu all unseren Geheimnissen hat.«
»Apropos Geheimnisse«, sagte ich. »Könnte dieser Verräter derselbe sein, der die Geheimnisse des Herrenhauses preisgegeben hat, damit das Herz angegriffen werden konnte? Wir haben auch nie herausgefunden, wer dahinter steckte. Und wenn man bedenkt, was wir jetzt von der kranken und bösartigen Natur des Herzens wissen, könnten diese Angreifer nicht die ganze Zeit auf der guten Seite gewesen sein?«
»Ethel?«
»Ich sage euch schon die ganze Zeit, dass ich nichts darüber weiß«, sagte die körperlose Stimme vorwurfsvoll. »Ich weiß eine ganze Menge. Geheimnisse der Universen! Wenn ihr wüsstet, wozu man die Pyramiden tatsächlich gebaut hat, würdet ihr euch übergeben und blind werden. Aber das Herz - es hat sich eine Menge Feinde gemacht, bevor es herkam. Es zerstörte ganze Welten und ganze Zivilisationen, nur um sich zu amüsieren. Ich war nicht der Einzige, der versucht hat, es der Gerechtigkeit und der Rache zuzuführen.«
»Und dein erster Kontakt mit dieser Dimension war der Blaue Elf«, sagte ich nachdenklich.
»Ja, er fischte zwischen den Dimensionen und hat zufällig einen sehr kleinen Teil von mir gefangen.«
»Er öffnet interdimensionale Portale«, sagte die Matriarchin sehr langsam. »Und wir haben ihn hierher gebracht, ins Herrenhaus, während des Kriegs gegen die Hungrigen Götter. Auf deine Empfehlung hin, Edwin!«
»Er hat mein Vertrauen missbraucht«, sagte ich. »Aber er kann doch nicht unser Verräter sein?«
»Warum nicht?«, fragte der Waffenmeister. »Was wissen wir denn wirklich über ihn? Ein halber Elb, Produkt eines Elbenvaters und einer menschlichen Mutter. Wir haben eine recht gute Vorstellung davon, wer sein Vater sein könnte, aber ich glaube, die Mutter haben wir nie identifiziert. Vielleicht war sie eine Drood? Das könnte auch erklären, warum der Blaue Elf so verzweifelt einen Torques stehlen wollte.«
»Ich habe den Blauen Elf mal in der Bibliothek erwischt, als er dort herumschnüffelte«, meinte ich. »Vielleicht hat er nach Hinweisen auf seine Familienwurzeln gesucht.«
»Wir müssen mit William reden«, entschied die Matriarchin. »Ethel, etabliere bitte eine Verbindung.«
»Aber ja! Kein Problem. Ich liebe solche Sachen. Wisst ihr, man kann in eurer Dimension wunderbar mit den Gesetzen der Materie herumspielen. Eigentlich sind es weniger echte Gesetze als einfach nur Übereinstimmungen, die nur hier gelten. Ich könnte -«
»Nein, könntest du nicht«, unterbrach ich schnell. »Im Gegenteil zu allem, was du uns vielleicht sagen hörst, mögen wir die Dinge genau, wie sie sind. Öffne uns nur ein Fenster in die alte Bibliothek, bitte.«
Ethel schnüffelte. »Ihr seid viel zu wenig auf Abenteuer aus. Und außerdem hast du mir noch nie dieses Sex-Ding erklärt, das ihr da immer macht.«
»Später, Ethel. Die Verbindung bitte!«
Die Luft schimmerte, und vor uns erschien ein zweiteiliger schwerer Vorhang aus purpurfarbenem Plüschsamt. Eine laute Trompetenfanfare erklang aus dem Nichts, gefolgt von einem Trommelwirbel. Erst dann öffneten sich die Vorhänge langsam und dramatisch, um einen Blick in die alte Bibliothek zu gewähren. Es war schwer zu sagen, wo genau - eines der hohen, alten und staubigen Bücherregale sah aus wie das andere. Das Licht war ein dunkelgoldenes Schimmern, wie Alterspatina, die sich auf die Luft selbst gelegt hatte. William erschien abrupt vor uns und stieß sein verärgertes Gesicht geradezu in unsere Richtung. Ein bisschen sah es so aus, als sei eines dieser dreidimensionalen Bilder wild geworden. Mit seinem von tiefen Falten gezeichneten Gesicht, dem düsteren Blick, der langen Haarmähne und dem Bart sah William sehr nach einem dieser alttestamentarischen Propheten aus, die sich darauf spezialisiert hatten, schreckliche Dinge vorherzusagen, die schon ganz bald passieren würden.
»Es ist absolut nicht nötig, hier eine unglaublich laute Glocke erklingen zu lassen, wenn ihr mit mir reden wollt! Ich bin verrückt, aber nicht taub! Ihr wisst doch, dass ich laute Geräusche nicht mag. Und Eichhörnchen.«
»Berichte uns von deinen Fortschritten«, unterbrach ihn die Matriarchin und verhinderte damit etwas, das eine lange Schmährede zu werden versprach. William starrte sie finster an. »Sag bitte.«
Die Matriarchin seufzte. »Edwin, würdest du nicht vielleicht doch wieder die Familie anführen wollen?«
»Sag doch einfach bitte und vergiss es.« »Ach, was soll's. Bitte«, sagte die Matriarchin.
»Es klingt nicht so, als würdest du das auch so meinen«, sagte William hinterlistig. »Ein freundliches ›Bitte‹, bitte.«
»Bitte, lieber William!«
»Sehr gut, Matriarchin! Und jetzt sag: In Krakatau, östlich von Java, gibt es Bestrebungen zur Separation der anglikanischen Kirche von der Monarchie.« »William!«, sagte ich.