Niemand achtete auf mich. Eines der ersten Dinge, die sie einem als Feldagent beibringen, ist, wie man sich ganz offen bewegt und dabei ungesehen bleibt. Durchschnittlich zu sein und anonym, nur ein weiteres Gesicht in der Menge. Sie könnten auf offener Straße an mir vorbeigehen und würden mich nicht wahrnehmen. Das gehört zum Training. Auch Sie könnten den Eindruck eines Niemands erwecken, der keinen zweiten Blick wert ist, wenn Sie entsprechend auf diese Arbeit vorbereitet würden.
Mein gegenwärtiger Auftrag war wichtig, aber frustrierend-vage formuliert. Die Sicherheit ganz Englands stand auf dem Spiel, aber niemand konnte mir sagen, warum. Fremde Elementargeister planten etwas Großes, ein großes und gefährliches Ereignis mitten in London, aber niemand konnte mir etwas über das Was oder Wer oder Wann sagen. Natürlich konnte »fremd« genau das bedeuten, oder es konnte sich um Elben handeln oder Aliens oder unnatürliche Kräfte außerhalb unserer Realität. Die Familienwahrsager sagen immer das Richtige voraus, aber sie sehen die Zukunft wie durch ein trübes Milchglas. Die Vorhersagen werden immer dann vage, wenn es an die nützlichen Details geht. Einige Warnungen waren so rätselhaft formuliert, dass man sie erst hinterher klar verstehen konnte.
Der Tower von London, hatten sie diesmal gesagt. Unser größter Schatz ist in Gefahr. England gefährdet. Das Verbrechen des Jahrhunderts …
Ist das vage oder was?
Aber die Familie nimmt all dieses Zeug sehr ernst, also wurde ich losgeschickt, um dem nachzugehen. London ist mein Gebiet. London, auch bekannt als Der Rauch - denn jeder weiß, wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Also war ich wieder einmal als Shaman Bond unterwegs, um mit den gut informierten Leuten zu sprechen. Dabei würde ich hoffentlich entdecken, was zur Hölle hier abging, und es verhindern. Ich konnte nicht einfach die goldene Rüstung aus meinem Torques erscheinen lassen und überall als Eddie Drood, Feldagent und Beschützer der Unschuldigen und fieser Verfolger der Gottlosen, auftauchen. Die Leute würden einfach davonlaufen und sich im nächsten Mauseloch verstecken. Aber sie würden mit Shaman Bond reden. Sie mögen ihn.
Es hat mich viel Mühe gekostet, ihn liebenswert zu machen.
Sie kommen zu Londons berüchtigter Jobbörse, indem Sie eine Seitenstraße heruntergehen, die nicht immer da ist. Außerdem brauchen Sie die richtigen Passworte, die man auch an den richtigen Stellen sagen muss, damit sich die Wachhunde nicht in Höllenhunde verwandeln und Ihnen die Seele herausreißen. Schließlich gehen Sie noch durch eine Tür zu Ihrer Linken, die sich nur dann öffnen wird, wenn sie Ihr Gesicht mag. Sie werden bald wissen, ob Sie auf der schwarzen Liste stehen, denn die Tür wird Ihnen die Hand abbeißen, wenn das nicht so ist. Und nein, Sie können sich nirgendwo beschweren. Niemand hat Sie gebeten zu kommen.
Die Jobbörse gibt es schon seit der Zeit Elisabeths I. Man nimmt an, dass die ersten Messestände 1589 auf der gefrorenen Themse errichtet wurden. Damals gab es noch richtige Winter. Wie jedes erfolgreiche Unternehmen ist die Jobbörse über die Jahrhunderte hinweg enorm gewachsen. Obwohl die Jobs und Dienstleistungen, die man auf dieser Börse anbietet, sich seit den Gründungstagen geändert haben, sind sie doch im Grunde die gleichen geblieben. Es geht immer noch um Geld, Macht und Einfluss. Liebe, Hass und besonders Sex. In der berüchtigten und ein wenig unheimlichen Jobbörse kriegt man Jobs, Dienstleistungen und Fähigkeiten werden angeboten, Geschäfte gemacht, und Leute werden regelmäßig und professionell über den Tisch gezogen.
Die Jobbörse gehört seit Shakespeares Zeiten schon einer ganz bestimmten Familie. Niemand spricht den Namen laut aus, aber hier haben Sie einen Hinweis: Die Gesellschaft heißt »Ein Pfund Fleisch AG«, und ihr Motto ist »Wir bekommen immer unseren Anteil!«.
Ich ging die Straße hinunter, sagte all die richtigen Worte (einschließlich »braver Hund!«) und schob die angenehm anonyme Tür auf. Der Knauf erkannte Shaman Bond und blieb einfach ein Knauf. In der Halle herrschten unglaublicher Lärm und Chaos und laute Rufe, die mit dem Geschäftemachen einhergehen. Die Jobbörse ist lang und groß. Die wunderlichsten Dinge passieren dort. Jeder, der etwas auf sich hält, hat früher oder später einmal einen Messestand dort gehabt. Die Messestände stehen dicht an dicht, jeder kämpft um ein paar zusätzliche Zentimeter, um seine vier Wände so weit auszudehnen, wie das Auge reicht. Oder noch weiter. Der große, offene Platz in der Mitte war vollgepackt mit einer ohrenbetäubend lauten, dicht gedrängten Menge von Unnatürlichen und Gottlosen - den Kriminellen und Außenseitern und den ganz hartnäckigen Freidenkern. Alle suchten nach einer zeitlich begrenzten, einträglichen Anstellung, einem sehr ausgewählten und geheimen Dienst und der Chance, jemanden fertigzumachen. Der Lärm war beängstigend, der Geruch nicht viel besser, und das schiere Spektakel sowohl von Menschen als auch Anblicken war mehr als genug, den unerfahrenen Besucher einzuschüchtern.
Sie wollen einen Mörder anheuern, um Ihren eigenen Tod zu arrangieren? Ihre Seele oder die eines anderen verkaufen? Haben Sie einen Plan, um sagenhafte Dinge zu stehlen, oder den dringenden Wunsch, diese loszuwerden? Dann sind Sie an der richtigen Stelle. Aber Sie sollten aufpassen, immer das Kleingedruckte lesen und danach Ihre Eier zählen.
Um mich herum waren Geister, die nach passenden Häusern suchen, um darin zu spuken, Werwölfe, die anboten, Vermisste und Gestrauchelte zu finden, Vampire, die sich mit romantischem Glanz selbst als Gigolos oder Attentäter oder auch für die Hilfe zum Selbstmord anboten. Auch die übliche Versammlung von Ghouls, liebenswert wie immer, war bereit, alle natürlichen oder chemischen Katastrophen aufzuräumen (Merke: Ghouls können alles verdauen). Shaman Bond war bekannt dafür, hier den einen oder anderen Gelegenheitsjob abzustauben. Also war auch keiner überrascht, mich hier zu sehen. Shaman ist darauf spezialisiert, Geheimnisse und ungewöhnliche Informationen für eine nur geringfügig unverschämte Gebühr auszuplaudern. Die Forschungsabteilung der Familie sagt mir dabei, was ich wissen muss, ich gebe es an meine Kunden weiter, und alle sind glücklich. Und wenn die Familie hin und wieder falsche Informationen oder üble Propaganda streuen will, wenn es den meisten Schaden anrichtet - nun, jeder weiß, dass man so etwas an der Jobbörse eben riskiert. Shaman Bond hat eine bessere Reputation als die meisten, und das ist es, worauf es ankommt.
Ich bahnte mir einen Weg durch die dichte Menge, nickte bekannten Gesichtern zu und zeigte sowohl Freunden wie Feinden meine freundlichste Miene. Die Jobbörse ist neutraler Boden für alles und jeden. Ungefähr ein Dutzend Golems aus Messing, die an den Wänden stehen, sorgen dafür. (Und auch noch ein paar andere, weniger offensichtliche, aber ganz besonders ekelhafte Gerätschaften, die an ganz unerwarteten Orten versteckt sind.) Es macht keinen Unterschied, ob es sich um Blut- oder Stammesfehden handelt, jahrhundertealte Vendetten oder dogmatische Meinungsverschiedenheiten; das alles bleibt vor der Tür, wenn Sie in der Jobbörse Geschäfte machen wollen.
Ich erlaubte den Strömungen in der Menge, mich dorthin zu tragen, wohin sie wollten, während ich mich genauer umsah. Es schien, als hätte heute Abend jeder einen Messestand hier: Regierungen und Religionen, unabhängige Headhunter und Mittelsmänner, Dienstleister und alle Arten von düsteren Geschäftemachern, die man sich nur vorstellen kann. Es gab sogar ein paar Stände von kleineren Staaten der Welt, die besondere Jobs und Gelegenheiten anboten - und die verzweifelt auf der Suche nach einer Chance waren, bei den Großen mitzumischen.
Selbstverständlich gab es auch Stände für jeden Spion und Geheimdienst der Welt. Keine Droods natürlich. Sie erinnern sich hoffentlich, dass wir nur eine urbane Legende sind, oder?
Aber die CIA war da, der KGB (oder wer auch immer sich heutzutage hinter dieser Abkürzung verbirgt), die Vril-Gesellschaft, der Vatikan (der von einer riesigen Metzgernonne in der Tracht der Schwestern der Heilsarmee vertreten wurde), die Tracey-Brüder, Nation der Druiden (»Für die Rückkehr der Angst an Halloween!«), und ein ziemlich bekanntes Gesicht, das den Stand des MI 13 besetzte. Ich schlenderte hinüber und lächelte Philip McAlpine an, einen von Englands Topspionen. Er war mittelalt und hatte eine beginnende Glatze. Er sah mich kommen und fühlte sich noch ausgenutzter als sowieso schon. Ich blieb vor ihm stehen, und er seufzte doch tatsächlich laut.