»Shaman, mein Bester!«, rief er und zeigte Zähne in einem sehr professionellen Lächeln. »Schön, dich wieder mal unterwegs zu sehen. Ich hab dich ja nicht mehr getroffen, seit … Na ja, zumindest nicht in der Öffentlichkeit, was? Was treibst du so?«
»Das würdest du mir nie glauben«, antwortete ich ernst. »Was ist mir dir, Harry? Wie laufen die Geschäfte?«
»Ach, ganz gut, wie immer.« Sein Lächeln gefror für einen Moment. Sein Blick ging für einen Sekundenbruchteil an mir vorbei. »Ich hatte ein wenig Pech mit einem Engel auf der dunklen Seite der Nacht. Und auf einmal finde ich mich in der Lage, gute Taten für mein Seelenheil tun zu müssen. Wie das eben so ist. Kann ich dich für etwas Besonderes interessieren, für einen sehr vernünftigen Preis? Ich habe da einen Posten sehr delikates, geräuchertes Schwarzfüßlerfleisch an der Hand. Oder darf es etwas vollmundiger Hyde sein? Ich habe da auch etwas erstklassiges marsianisches Rotkraut, raucht sich sehr cool. Nein? Wie ist es mit ein paar Yeti-Tränen? Oder etwas elektrographischer Beschleunigung? Besonders wirksames Speed, aus dem Hause Blue Lights?«
»Ich glaube, ich verzichte«, sagte ich entschieden.
»Dann muss ich jetzt weiter«, sagte er rasch. »Du weißt ja, wie das ist, alter Junge. Dinge sehen, Leute treffen - ich denke, ich habe da drüben einen Touristen gesehen, der mich geradezu anbettelt, ihn um alles zu erleichtern, was er hat.«
Weg war er und tauchte mit einem Lächeln auf den Lippen und ehrlichem Diebstahl im Sinn so gekonnt durch die Menge, dass diese kaum auswich.
Der Abstrakte stand in der Mitte seines eigenen Personals und seines eigenen sehr privaten Platzes. Jeder ließ ihm eine Menge Raum, weil keiner, der bei klarem Verstand war, ihm zu nahe kommen wollte. Er könnte einen ja bemerken. Der Abstrakte war ein Mann, der sein Menschsein auf seine Essenz reduziert hatte. Oder vielleicht hatte er sich dorthin weiterentwickelt. Man sieht ihn noch am deutlichsten aus dem Augenwinkel, aber selbst dann hat man eher einen Eindruck als eine wirklich definierte Gestalt. Ich weiß nicht, was er zurzeit als Körper benutzt, aber er besteht verflucht nochmal nicht aus Fleisch und Blut. Er ist eine Projektion, die Idee eines Menschen. Unsterblich, unverwundbar und in der Lage, um Ecken zu denken, von denen Sie nicht einmal wissen, dass es sie gibt. Einige sagen, er habe eine Wette verloren, mit Gott oder dem Teufel, und andere sagen, dass er sich das selbst angetan hat und jetzt nicht mehr aus der Nummer rauskommt. Wie auch immer, der Abstrakte kommt und geht, wie es ihm gefällt und keiner weiß, wie oder warum. Ob das nun eine Tragödie ist oder ein Triumph - wahrscheinlich ist es beides. Das Einzige, auf das man sich bei ihm einigen kann, ist, dass er verrückt ist, böse und dass es gefährlich ist, ihn zu kennen. Also sind wir alle sehr höflich zu ihm.
Ich hatte ihn noch nie an der Jobbörse gesehen.
Er wandte seinen abstrakten Kopf zu mir hin, und ich fühlte den Einschlag seines Blicks geradezu körperlich. Er wusste, wer ich in Wirklichkeit war. Er wusste alles, was er wissen wollte. Er ging nicht auf mich zu, er war auf einmal da, direkt vor mir. Ich tat mein Bestes, weder zusammenzuzucken noch zurückzuweichen. So aus der Nähe war er noch verstörender. Es tat meinen Augen weh, ihn direkt anzusehen. Alles an ihm war falsch. Wie ein Kreis mit geraden Linien oder ein Raum mit zu vielen Winkeln. Er hatte Höhe und Breite und Tiefe und noch andere Dimensionen. Ich zitterte.
Seine Stimme explodierte in meinem Kopf, und ich schrie auf. Er war gleichzeitig Ton und Farben und betäubende Bilder. Der Abstrakte hatte sich über die Sprache hinaus zu etwas entwickelt, was sich vielleicht jenseits der Telepathie befand. Alles, was ich verstand, war, dass er jemanden oder etwas suchte, aber er konnte mir nicht verständlich machen, wen oder was. Blut schoss aus meinen Nasenlöchern und kam unter meinen Augenlidern hervorgequollen. Und dann, einfach so, war er wieder da, wo er gewesen war, und die einzige Person in meinem Kopf war ich selbst.
Ein Man in Black kam vorbei und reichte mir ein Papiertaschentuch. Ich nickte dankbar und wischte mir das Blut von den Wangen. Dann drückte ich es gegen meine Nase.
Alles in allem eine recht typische Begegnung mit dem Abstrakten. Die Droods haben bereits ein paar Anfragen erhalten, ihn auszuschalten; sogar aus mehr Gründen als nur des üblichen, extremen Vorurteils, dass er eben sehr irritierend wirkt. Wir ziehen das ernsthaft in Betracht, und sei es nur, weil es eine schöne Herausforderung wäre. Das Problem mit dem Abstrakten ist, dass er schon vom Prinzip her reiner und mächtiger ist als jeder andere und weit jenseits jeglichen menschlichen Verständnisses oder Manipulationsvermögens. Und wer will schon einen Gott, den man weder verstehen oder befriedigen kann und den es nicht die Bohne interessiert, ob man ihn anbetet oder nicht?
Ich sah auf das Taschentuch. Es war kein Blut darauf. Als ich über meine Wangen strich, war auch darauf kein Blut, auch nicht um meine Augen herum. Es trocknete auch keines in meinen Nasenlöchern. Typisch.
Ich spazierte weiter durch die Menge. Tauschte hier ein paar Worte, schüttelte Hände und drückte Küsschen auf Wangen. Ich mag es, Shaman Bond zu sein. Ja, gut, er ist nicht ganz echt, so gesehen, aber ich fühle mich viel wohler, wenn ich er bin, als wenn ich Eddie Drood sein muss. Shaman kann stark oder ein bisschen dumm sein, gerade wie es ihm passt, und keiner kümmert sich einen Dreck darum, wenn er's vermasselt. Auf seinen Schultern lastet nicht das Schicksal der Menschheit.
Er hat Freunde. Ein Drood hat nur seine Familie und seine Feinde.
Shaman Bond ist mehr als nur die Maske, hinter der ich mich in der Öffentlichkeit verstecke. Er ist der Mann, der ich vielleicht wäre, wenn mein Leben mir selbst gehört hätte.
Die CIA hatte ihren eigenen Stand, wie immer. Er war sehr groß und sah proper und bunt aus, komplett ausgerüstet mit Flachbildschirmen, den allerneuesten Erfindungen und technischem Schnickschnack. Auch die stolze amerikanische Flagge fehlte an prominenter Stelle nicht, ebenso wenig wie ein echter Adler, der es sich auf einem Pfahl bequem gemacht hatte und misstrauisch auf die Vorübergehenden herabsah. Die CIA rekrutierte jeden, der Interesse zeigte und betrieb einen schwunghaften Handel mit Souvenirs und Erinnerungsstücken. Niemals fehlte ihr das Geld für Informationen und den neuesten Klatsch - aber in Wirklichkeit war sie nur da, um Präsenz zu zeigen. Sie wollte uns daran erinnern, dass sie uns immer beobachtet. Ich erkannte ein anderes bekanntes Gesicht hinter dem Tisch und schlenderte hinüber.
Nickie Carter ist eine etwas altmodische CIA-Agentin und schon in vierter oder fünfter Generation in der Spionage. Sie ist eine angenehm aussehende Brünette Anfang Zwanzig, trug einen schicken, hellblauen Business-Anzug und ein professionelles Lächeln. Eigentlich sah sie aus wie das erfolgreiche Produkt einer berühmten Wirtschaftsuniversität. Sie kannte außerdem siebenundfünfzig Arten, einen mit dem kleinen Finger zu töten und konnte einige richtig eklige Sachen mit ihrem Mund anstellen. Wir hatten einmal ein Wochenende in Helsinki miteinander verbracht. Wir waren jemandem auf der Spur gewesen, der sich genau genommen als nicht existent herausgestellt hatte. So ist der Job eben manchmal.
Sie kennt mich nur als Shaman Bond. Was sogar gut ist, denn sonst fühlt sie sich vielleicht verpflichtet, mich umzubringen.
Nickie lächelte mich liebenswert an. »Shaman, Liebling, gut siehst du aus! Tut mir leid wegen dieses Auslieferungsantrags letztes Jahr, aber irgendein verrückter Beamter weiter oben in der Hierarchie hatte sich in die Idee verrannt, du würdest im Manifesten Schicksal eine große Rolle spielen. Ich habe versucht, ihm das auszureden, aber keiner hört heutzutage mehr auf eine einfache Agentin. Nur die Computer zählen jetzt, alles Trends und Vorhersagen. Verdammte Erbsenzähler!« Sie sah mich nachdenklich an. »Wie hast du es denn geschafft, uns aus dem Weg zu gehen, Shaman?«