Schließlich kamen sie durch die Wände, aus dem Boden und von der Decke herab. Wirklich und real; nicht lebendig, und immer noch mit den Wunden, an denen sie gestorben waren. All die Versuchsobjekte, mit denen man experimentiert hatte, die in dem Stuhl gelitten hatten und gestorben waren, die um Hilfe geschrien hatten, um Gnade und einfaches Mitleid, das nie jemand gehabt hatte. Sie kamen wegen Sergei und Ludmilla, die langsam starben, schreiend unter den Händen derer, denen sie das alles angetan hatten. Und als die Toten endlich mit ihnen fertig waren, ließen sie nur eine blutige Masse auf dem Boden zurück. Sie gingen hinaus aus dem Raum, in die Stadt und taten noch schlimmere Dinge.
Das Band hielt an. Ich sah mich verwirrt um. Ich hatte vergessen, wer ich war und wann ich war. Das Zimmer, in dem alles passiert war, hatte mich völlig eingenommen. Ich holte tief Luft und wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß vom Mund. Honey hatte den Recorder abgeschaltet. Sie atmete schwer. Ich fragte mich, ob sie das Gleiche gesehen hatte wie ich. Walker sah auf den Boden. Peter hatte uns den Rücken zugewandt. Ich sah durch den Einwegspiegel in den anderen Raum. Er war leer und der Stuhl auch.
»Wie viel davon habt ihr mitbekommen?«, fragte ich nach einer Weile. Es klang nicht wie meine eigene Stimme. Es klang … schockiert und unsicher. Verloren.
»Genug«, sagte Walker. »Monster des ›Es‹. Das ›Es‹ der Stadt.«
»Er hat eine Stadt mit ihren eigenen Albträumen getötet«, sagte Honey. »Eine ganze Stadt …«
»Das eine, dem niemand ins Gesicht sehen kann«, sagte Peter. Er wandte sich um, aber er sah an uns vorbei in den anderen Raum.
»Gut immerhin, dass der verrückte Bastard tot und verschwunden ist«, meinte Honey und versuchte einen flotten, professionellen Ton anzuschlagen, was ihr aber nicht richtig gelang. »Wer weiß, was er sonst noch angestellt hätte. Kein Wunder, dass die Sowjets damit nicht fertig wurden.«
»Sie wollten eine Waffe«, sagte Walker. »Und sie haben eine gekriegt.«
»Ich glaube, er ist tot«, sagte ich. »Keiner könnte sehnen, was er gesehen hat, und das überleben. Aber ich glaube nicht, dass er weg ist. Was er getan hat, war so machtvoll, dass die psychischen Energien sich selbst in die materielle Umgebung eingeprägt haben. Bereit, jederzeit wieder hervorzutreten. Warum befindet sich Grigors Leiche nicht noch in dem Stuhl? Warum sind die Leichen der Forscher nicht mehr auf dem Boden oder wenigstens das, was von ihnen noch übrig war? Warum haben wir nicht eine einzige Leiche in der ganzen verdammten Stadt gefunden? Weil die Albträume immer noch hier sind. Immer noch aktiv. Immer noch hungrig.«
»Ich kann's fühlen«, sagte Walker. »Wie Spannung in der Luft, bevor ein Gewitter losbricht. Wie das Innehalten, bevor das Beil niedersaust …«
»Hören Sie damit auf!«, sagte Honey. »Ihr alle, nehmt euch zusammen! Wir sind Profis, wir können damit umgehen.«
»Bist du verrückt?«, Peters Stimme war schrill, beinahe hysterisch, alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Es war das erste Mal, dass ich ihn wirklich ängstlich sah. »Wir müssen hier raus! Die Stadt wird lebendig, und die Albträume kehren zurück! Alle schlechten Träume, die du jemals hattest. In Träumen gibt es Dinge, denen man nicht gegenübertreten kann!«
»Reißen Sie sich zusammen, Peter«, sagte Walker, aber seiner Stimme fehlten die übliche Überzeugung und Autorität.
»Still«, sagte Honey, und etwas in ihrer Stimme ließ uns sofort erstarren. »Ich glaube … es ist hier.«
Der Videorecorder schaltete sich von allein wieder an. Der Fernseher wurde wieder lebendig. Wir alle sahen unwillig hin. Grigor saß wieder in seinem Stuhl, zerhackt, aber immer noch lebendig. Die beiden blutigen Massen, die Ludmilla und Sergei gewesen waren, breiteten sich vor ihm auf dem Boden aus, wie Opfer, die man einem gnadenlosen Gott dargebracht hat. Von außerhalb des Raums, aus den umliegenden Straßen, kamen schreckliche Geräusche. Kreischen und Schreien und das Brüllen von etwas, das wilde Tiere sein könnten. Grigor drehte seinen blutigen Kopf und sah uns unmittelbar durch den Spiegel an. Er lächelte und nur wenig Menschliches und noch weniger Mitgefühl war darin. Es war das Lächeln eines Mannes, der hinter die Tore der Hölle gesehen und erkannt hatte, was man dort tat und was auf ihn wartete.
Ihr müsst sterben, sagte er. Ihr alle müsst sterben.
»Warum?«, fragte ich. »Wir haben dir nie etwas getan.«
Natürlich konnte er mich nicht hören. Grigor war tot, lange tot. Das war nur eine Aufnahme seiner letzten Botschaft an die Menschheit.
Wir sind nicht, was wir glauben, sagte er. Das waren wir nie. Ihr müsst sterben. Weil niemand jemals die Wahrheit erfahren darf.
»Welche Wahrheit?«, fragte Honey.
»Warum Albträume?«, fragte Walker. »Warum all diese Leute in der Stadt auf so eine schreckliche Weise töten?«
Weil wir das verdient haben.
Das Band hielt plötzlich an und der Bildschirm war wieder tot.
»Naja«, sagte ich und gab mir große Mühe, ruhig und beiläufig zu klingen. »Das war … besorgniserregend. Und mehr als nur ein wenig unheimlich.«
»Was hat er nur in unserer DNA gesehen?«, fragte Honey.
»Wahrscheinlich ist es besser, wenn wir das nicht wissen«, sagte ich.
»Könnte Grigor nicht noch irgendwo am Leben sein, was meinen Sie?«, fragte Walker. »Verborgen vielleicht. Vielleicht schickt er diese … Bilder.«
»Nein«, sagte ich. »Wenn hier irgendjemand in dieser verdammten Stadt noch am Leben wäre, dann wüsste ich das. Hier war seit Jahren nichts lebendig. Selbst die Tiere haben Verstand genug, nicht hierher zu kommen. Ich glaube, keiner könnte hier für lange leben; nicht nach alldem, was hier passiert ist. Das ist eine Stadt der Erinnerungen. Aufbewahrter, barbarischer Erinnerungen.«
Es wurde kälter und dunkler. Der Raum auf der anderen Seite des Spiegels war nun fast verschwunden, verschluckt von den Schatten. Die Lampen in unserem Raum wurden schwächer, als ob ihnen die Kraft entzogen wurde. Unser Atem begann, in der Luft zu dampfen, und wir schlossen unsere Mäntel wieder. Das Gefühl bevorstehenden Unheils wuchs, ganz als würde gleich etwas losbrechen. Wir vier rückten enger zusammen und dann wieder auseinander, weil wir in alle Richtungen gleichzeitig sehen wollten. Von außerhalb des Gebäudes drangen Stimmen zu uns. Stimmen … beinahe menschlich. Zuerst wie vereinzelte Individuen, dann immer mehr, bis sie schließlich zu einer Stimme der Masse, des Mobs wurden, der vor Angst und Schlachterei verrückt geworden war.
Der Klang einer ganzen Stadt, die von ihren Ängsten in den Wahnsinn getrieben und ermordet worden war.
»Was ist das?«, fragte Honey. Sie schlug die Hände vor die Ohren, vergeblich. »Was soll dieser Krach? Es ist doch keiner da, diese Stadt ist leer! Sie ist leer! Keiner ist da draußen unterwegs!«
»Die Toten bleiben nicht immer tot«, sagte Walker. Er sah verwirrt aus, als ob ihn jemand gerade geschlagen hätte.
»Nein«, sagte ich schnell. »Da ist niemand draußen. Nicht so. Es sind … die Erinnerungen an die Albträume. Als die Leute hier gestorben sind, als die Stadt starb, als alle Männer und Frauen und Kinder, gefangen an diesem Ort, ihren Albträumen zum Opfer fielen. Dieser Ausfluss der Emotion und des Traumas, das mit Grigor angefangen hat. Alles, was sie erfahren haben, wurde psychisch in Stein, Ziegel und den Beton von X25 geprägt. Der ganze Ort ist eine einzige gigantische Aufzeichnung aus Stein. Und als wir die Stadt betraten, haben wir sie wieder gestartet.«
»Also ist sie nicht real?«, fragte Peter.
»Real genug«, erwiderte ich. »Real genug, um uns zu töten, wenn wir das zulassen.«
»Aber wo kommt die Energie her, um diese Art der Manifestation immer wieder neu anzufeuern?«, fragte Walker. »Was treibt das Playback immer wieder an?«